Deathbook (German Edition)
geht, bleibt der ganze Entstehungsprozess für mich spannend. Es gibt so gut wie keinen Tag, an dem ich mich ohne Lust an den Rechner setze. Ich kann mir nicht vorstellen, anders zu arbeiten.
Einen Nachteil hat das aber. Meine Fähigkeit, logisch zu denken und komplexe Abläufe im Voraus zu konstruieren, ist nicht sehr ausgeprägt. Dementsprechend erweise ich mich oft als Niete, wenn es darum geht, bei Filmen oder in Büchern den Täter schon ganz früh zu entdecken. Andererseits hält auch das die Spannung aufrecht.
Behalte den Tod im Auge.
Ich wäre beinahe gestolpert, als mir dieser Gedanke durch den Kopf schoss.
Der Tod spielte eine wesentliche Rolle. Nicht als Zustand, sondern als eine lauernde Gestalt im Hintergrund. Er war das verbindende Glied zwischen Kathi, dem Schulprojekt, dem merkwürdigen Text und Anima Moribunda, der «todgeweihten Seele», dem Absender der Videos.
Meine Intuition ließ mich nie im Stich. Ich vertraute ihr immer.
Behalte den Tod im Auge.
D er Tod war eingezogen und veränderte alles.
Der Rollladen vor dem Fenster war heruntergelassen, also war es morgens um acht noch dunkel in Ann-Christins Zimmer. Einzig der Monitor schimmerte bläulich. Seit drei Stunden war sie wach, und ebenso lange surfte sie schon im Internet. Weder hatte sie etwas gegessen noch getrunken. Das am Vortag von ihrer Tante zubereitete Sandwich lag noch unangetastet in der Küche. Ann-Christin hatte das Gefühl, ihr Körper würde nicht mehr zu ihr gehören. Es war ihr egal, wie sie aussah, wie sie nach drei Tagen ohne Dusche roch, es war ihr auch egal, dass sie langsam dehydrierte. Die Symptome waren eindeutig: Die Zunge klebte ihr am Gaumen, die Lippen waren trocken und rissig, sie war seit gestern nicht mehr auf der Toilette gewesen.
Das alles spielte keine Rolle. Denn der Tod war eingezogen und veränderte alles.
Heute Nachmittag würde die Beerdigung stattfinden. Ann-Christin verstand noch immer nicht, was da eigentlich passiert war. Sobald sie die Augen schloss und an ihre Mutter dachte, sah sie deren lebendiges, liebevolles Gesicht vor sich. Die Erinnerung an den Leichnam unten am Fuß der Treppe war noch immer verschollen, und jene an ihr totes Gesicht im Sarg verblasste bereits. Alles in ihr sträubte sich dagegen, den Tod ihrer Mama zu akzeptieren.
Im Internet, das hatte Ann-Christin mittlerweile herausgefunden, war der Tod allgegenwärtig. Er war dort präsenter als im wirklichen Leben. Sie hatte «Tod» in ihre Suchmaschine eingegeben und 32 000 000 Treffer erhalten. Sie hatte «Was ist der Tod» eingegeben und 307 000 000 Treffer erhalten. Es gab unzählige Foren, in denen sich User über Erfahrungen mit dem Tod austauschten. In einigen war Ann-Christin bereits gewesen. Manche waren albern, manche unanständig oder respektlos, in vielen waren Bilder, die sie nicht sehen wollte.
Ein immenses Interesse am Tod vibrierte durch das weltweite Netz. Fragen über Fragen, kaum Antworten, nur Mutmaßungen, und dort, wo die Angst zu groß wurde, entfalteten sich Häme und Spott. Überhaupt hatte Ann-Christin das Gefühl, die Angst vor dem Tod durchzöge alles. Sie schwang in jedem Satz, in jedem Scherz, in jedem grässlichen Video mit. Je mehr Mühe sich die Menschen gaben, den Tod ins Lächerliche zu ziehen, umso grauenhafter wurde er. Wuchs zu einem unfassbaren Monstrum heran, das jeden noch so zarten positiven Gedanken an ihn verunstaltete, ehe er überhaupt gedacht war.
Es gab aber auch ganz wundervolle Texte über den Tod. Einer davon stammte von Henry Scott Holland, einem englischen Geistlichen. Es handelte sich um das Zitat einer seiner Predigten aus dem Jahr 1910 . Ann-Christin hatte ihn schon vor einer Stunde gefunden, ausgedruckt und war dabei, ihn auswendig zu lernen. Wortlos formten ihre Lippen immer wieder diese Worte, und mit jedem weiteren Mal glaubte sie zu spüren, wie sie wahrhaftiger wurden.
Der Tod ist nichts
Der Tod ist nichts,
ich bin nur in das Zimmer nebenan gegangen.
Ich bin ich, ihr seid ihr.
Das, was ich für euch war, bin ich immer noch.
Gebt mir den Namen, den ihr mir immer gegeben habt.
Sprecht mit mir, wie ihr es immer getan habt.
Gebraucht keine andere Redeweise,
seid nicht feierlich oder traurig.
Lacht weiterhin über das,
worüber wir gemeinsam gelacht haben.
Betet, lacht, denkt an mich,
betet für mich,
damit mein Name ausgesprochen wird,
so wie es immer war,
ohne irgendeine besondere Betonung,
ohne die Spur eines Schattens.
Das Leben
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