Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
hinauf.
Unter den Bäumen war es angenehm kühl, und das Licht, das gebrochen durch das Blätterwerk drang, erhellte bunte Placken von Impatiens unter den Kletterpflanzen. »Da scheint jemand Sinn fürs Gärtnern zu haben«, bemerkte Gemma. »Oder hatte es jedenfalls«, verbesserte sie sich, als sie fast oben angekommen waren. »Jetzt sieht alles ein bißchen verwildert aus.«
Bei näherem Hinsehen wies auch die wasserblaue Tür die ersten Spuren mangelnder Pflege auf. Die Farbe an der unteren Kante hatte Risse und begann abzublättern. Gemma klingelte, und während sie warteten, hörte sie auf den Gesang der Vögel in den umliegenden Bäumen.
William Hammond öffnete die Tür. Er trug rote Hosenträger über einem weißen Hemd und einer Anzughose und hatte keine Schuhe an. Einen Moment starrte er sie ohne ein Zeichen des Erkennens an. »Entschuldigen Sie«, sagte er schließlich und deutete auf seine Kleidung. »Sie haben mich bei einem Nickerchen ertappt. Ich habe die letzten Nächte nicht sonderlich gut geschlafen.« Er fuhr sich mit seinen langen Fingern durchs Haar. »Gibt’s was Neues?«
»Leider nein«, erwiderte Kincaid. »Aber wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen. Es dauert nicht lange.«
»Kommen Sie doch rein«, forderte Hammond sie so freundlich auf, daß Gemma fast das Gefühl hatte, er sei dankbar für ihre Gesellschaft. Möglicherweise zog er sie der Einsamkeit seiner Gedanken vor.
Im Wohnzimmer waren dunkelgrüne Samtvorhänge weit aufgezogen, um auch den leisesten Windhauch hereinzulassen. Gemma stieg der feine Geruch von Staub - und etwas anderem - in die Nase, das sie nach einer Weile als den beißenden Geruch von Klebstoff identifizierte. Neben dem Sofa waren ordentlich ein Paar Herrenschuhe abgestellt, und das Kissen am oberen Ende des Sofas trug den Abdruck eines Kopfes.
Als sie sich in den Sessel mit Chintzbezug setzte, den Hammond ihr angeboten hatte, ließ ein flüchtiger Seitenblick in das angrenzende Zimmer ihren Atem stocken. »Oh, das ist ja phantastisch!« sagte sie spontan, stand auf und ging zur Türöffnung, um besser sehen zu können. Auf einem Eßtisch stand ein Modellschiff mit komplizierter, fein gesponnener Takelage. Sein Rumpf glänzte wie Satin. »Ist das die Cutty Sark?«
Hammond lächelte. »Nein, es ist die Sir Lancelot. Sie hat einst die Überfahrt von London nach China in der Rekordzeit von achtundachtzig Tagen zurückgelegt.«
»Großartiges Schiff«, bemerkte Kincaid, der zu ihnen trat. »Ich erinnere mich, als Kind mal so was mit einem Baukasten versucht zu haben. Aber das...« Er berührte den geschwungenen Rumpf. »Das ist ein Kunstwerk.« Er sah sich im Zimmer um und entdeckte die anderen Modellschiffe in den Regalen. »Wie konnten Sie diese Schiffe alle nachbauen? Soviel ich weiß, ist die Cutty Sark der einzige Klipper dieser Baureihe, der überhaupt noch existiert.«
»Steckt ’ne Menge Arbeit dahinter«, gab Hammond zu. »Ich mache mir alle Berichte und Zeichnungen zunutze, die ich auftreiben kann. Manchmal erlaube ich mir auch ein wenig künstlerische Freiheit.«
»Gehört wohl ungeheure Geduld dazu.« Gemma dachte an die vielen Stunden, die jedes einzelne Detail erfordern mußte. Sie dachte an ihre eigenen, erfolglosen Versuche, sich in einfachen Hobbys wie Handarbeiten zu betätigen, und fragte sich erneut, ob ihre Entschlossenheit, Klavierspielen zu lernen, nicht eine Dummheit war.
»Was einst als kindliches Interesse angefangen hat, ist in den letzten Jahren fast zur Besessenheit geworden, fürchte ich. Aber nach dem Tod meiner Frau hat es mir über die erste schwere Zeit hinweggeholfen, und jetzt ...« William Hammond starrte auf das Modell, einen Moment in seine Gedanken versunken, bis er mühsam wieder in die Gegenwart zurückfand. »Entschuldigen Sie. Wo bleiben meine Manieren? Darf ich Ihnen was zu trinken anbieten? Wie wär’s mit einer Tasse Tee?«
Allein der Gedanke an ein heißes Getränk trieb Gemma die Schweißperlen auf die Stirn. »Nein, danke«, wehrte sie hastig ab. »Wir wollen Sie nicht lange aufhalten.« Durch ein unmerkliches Nicken von Kincaid ermuntert, fuhr sie fort: »So seltsam es klingen mag, Mr. Hammond, aber heute sind wir wegen einer Sache hier, die lange zurückliegt. Wir haben von Ihrer Tochter erfahren, daß Sie während des Krieges aufs Land verschickt wurden.«
Sie waren mittlerweile ins Wohnzimmer zurückgekehrt. Hammond setzte sich bedächtig auf
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