Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
zurück. Als er sich setzte, berührten sich ihre Knie unweigerlich unter dem schmalen Tisch. »Ich empfehle die Fischbuletten«, sagte er und schlug eine Speisekarte für sie auf. »Ich weiß, das klingt langweilig und gewöhnlich, aber sie sind himmlisch. Und ich bin sicher, es gibt irgendeine historische Vorspeise ... irgendwas ä la Dickens, schätze ich. Weißt du eigentlich, daß dieses Lokal das Six Jolly Fellowship Porters aus Dickens’ Unser gemeinsamer Freund sein soll? Er hat die Kneipe als >nicht größer als eine Pferdedroschke< beschrieben. Und das trifft eigentlich noch immer zu. Damals schon hatte sie eine Veranda mit Blick auf den Fluß. Heutzutage ist sie natürlich etwas solider, aber die Holzleiter, die zu den Schiffen hinunterführte, damit die Matrosen direkt vom Fluß aus die Bar erreichen konnten, existiert schon lange nicht mehr. Wir gehen nachher raus und trinken noch was, wenn du Lust hast. Bis dahin darfst du dir einfach vorstellen, wie der Bugspriet von einem vor Anker liegenden Segelschoner durchs Fenster ragt und die einfachen Kerle ihre Pints leeren.« Er deutete auf das Fenster über ihrem Kopf und hob sein Glas. »Auf die Gespenster der Vergangenheit.«
Ihre Blicke trafen sich, als ihm klarwurde, was er da gerade gesagt hatte. Es folgte verlegenes Schweigen, und keiner von beiden sprach den Namen aus, der unausgesprochen zwischen ihnen stand. Reg, der normalerweise sehr geschickt darin war, peinliche Situationen mit Worten zu retten und aufzulockern, war die letzte Person, von der Teresa eine solche Bemerkung erwartet hatte. Und doch machte er an diesem Abend den Eindruck, als triebe ihn der Mut der Verzweiflung.
Auf der Suche nach einem rettenden Ausweg klappte sie die Speisekarte zu und sagte: »Was ist mit dir, Reg? Ißt du gar nichts?«
»Nur ein bißchen Suppe, um dir Gesellschaft zu leisten. Nimmst du die Fischfrikadellen?«
Als sie nickte, stand er wieder auf und gab an der Theke ihre Bestellung ab. »Oben im ersten Stock ist ein richtiges Restaurant«, erklärte er bei seiner Rückkehr. »Trotzdem bin ich froh, daß sie die Kneipe haben Kneipe sein lassen. Es sollte wenigstens ein paar beständige Dinge im Leben geben, findest du nicht?«
»Reg, ich ...«
»Tut mir leid, daß ich heute mittag nach dem Gespräch mit der Anwältin die Flucht ergriffen habe. Ich hätte dich nicht allein lassen dürfen.«
»Ach wo!« Sie schüttelte den Kopf. »Das war schon in Ordnung. Ich habe mir nur Sorgen gemacht - als du nicht mehr ins Büro gekommen bist, meine ich.«
»Als ob du nicht schon genug am Hals hättest.« Er sah sie an. Zum ersten Mal war sein Gesicht entspannt. Und kurz darauf fügte er hinzu: »Ich war ein ziemlicher Ausfall die letzten Tage, was? Scheint so, als käme ich einfach nicht damit klar.«
Teresa blinzelte. Das persönliche Geständnis überraschte sie. Im Büro war er tatsächlich völlig unbrauchbar und nicht einmal in der Lage gewesen, Aufgaben zu bewältigen, die er normalerweise nebenbei erledigt hatte. Allerdings hatte sie keine Ahnung, wie sie in seiner Lage damit fertig geworden wäre. Sie wußte, daß jeder in seiner Trauer anders reagierte. Sie, zum Beispiel, hatte sich in Arbeit vergraben, denn nur die Konzentration auf ihren Job hielt sie aufrecht.
Schließlich sagte sie, ohne sein Versagen zu leugnen: »Reg, wenn ich dir irgendwie helfen kann ...«
»Du warst ein Schatz.« Er berührte ihre Wange mit den Fingerspitzen. Teresa war sich plötzlich der Berührung seiner Knie bewußt, wurde rot vor Verlegenheit, entzog ihm ihre Knie jedoch nicht. Es war idiotisch von ihr, auch nur zu hoffen, daß er sie attraktiv finden könnte, merkte jedoch, daß das Unrechtsbewußtsein nichts an ihren Gefühlen änderte.
Die Kellnerin kam mit ihrem Essen und ersparte Teresa eine Antwort auf seine Bemerkung. Zu ihrer Überraschung merkte sie, daß sie trotz allem einen rasenden Hunger hatte. Die Fischfrikadellen waren so gut, wie Reg versprochen hatte, und sie aß sie mit großem Appetit.
Er beobachtete sie lächelnd, rührte in seiner Suppe, und als sie fertig war, sagte er: »Braves Mädchen. Konnte nicht zulassen, daß du verhungerst. Was würde die Firma Hammond’s ohne dich machen?«
Die Ängste, die sie in den vergangenen Tagen hatte unterdrücken können, nagten plötzlich wieder an ihr. »Reg, was sollen wir nur tun? Es tauchen bereits Sachen auf, mit denen ich nicht umzugehen weiß. Ich kann
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