Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
fühlen, wenn du nach London zurückkommst und verletzt oder getötet wirst? Dann ist das ganze Jahr doch völlig umsonst gewesen, oder?«
Er schüttelte wortlos den Kopf und fand unerwartet Trost in der Wut seiner Mutter.
»Im East End herrscht Chaos«, fuhr Edwinafort. »Soviel weißt du. Du hast die Reportagen im Radio gehört. Und Williams Eltern haben uns das bestätigt. Sie konnten uns von Greenwich aus anrufen. Der alte Speicher der Firma Hammond’s ist zum Glück nur leicht beschädigt worden. Es ist möglich, daß deine Familie ausquartiert worden ist ... und in diesem Fall würdest du sie nicht mal finden. Das vernünftigste ist abzuwarten. Ich bin sicher, daß wir bald Nachricht erhalten.« Er hörte die Stuhlbeine knacken, als Edwina aufstand. Dann fühlte er ihre Hand zart auf seiner Schulter. »Versprich mir, daß du nichts überstürzt.«
Nach einem Moment brachte er ein Nicken zustande. »Also gut«, sagte er, ohne sie anzusehen.
»Du bist ein vernünftiger Junge, Lewis«, seufzte Edwina und drückte kurz seine Schulter. »Ich wußte, daß ich mich auf dich verlassen kann.«
Lewis hörte, wie sie die Treppe hinunterging. Der Schritt ihrer Stiefel war so schnell und präzise wie alles, was sie tat. Trotzdem - erfühlte sich keineswegs vernünftig. Tief in seinem Herzen wußte er, daß er seine Familie im Stich ließ, sie einem unbekannten Schicksal überließ, das er mit ihr hätte teilen müssen, und daß sein Verharren in Sicherheit und Vernunft ihn zum Außenseiter und Feigling stempelte.
Das Haus in der Stebondale Street wurde in der dritten Nacht des Blitzkriegs von einer Brandbombe getroffen, aber das erfuhr Lewis erst eine Woche später, als die Nachricht mit der Post kam. Das Stück Papier war schmutzig und fleckig, aber er machte fast einen Luftsprung, denn die saubere altmodische Klosterschülerinnenhandschrift seiner Mutter war unverkennbar.
Lieber Lewis,
das Haus ist zerstört, aber uns ist nichts passiert. In der dritten Nacht, als die Bomber kamen, ist eine Brandbombe auf das Hausdachgefallen. Aber wir waren bei den McNeills in der Chapel House Street in ihrem Unterstand, als die Sirenen heulten. Wir hatten also Glück, was? Man hat uns eine Wohnung in Islington zugewiesen, die wir mit zwei anderen Familien teilen. Sie ist nicht sonderlich sauber, aber zumindest haben wir ein Dach über dem Kopf. Ich schreibe bald mehr.
Vergiß nicht, daß ich dich liebhabe.
Deine dich liebende Mutter.
Lewis hatte täglich am unteren Ende der Auffahrt auf die Post gewartet, und jetzt stand er dort, starrte auf das fleckige Stück Papier, bis Tränen seinen Blick trübten und auf den Brief tropften. Er wußte, daß William, Edwina und Mr. Cuddy und sogar die Köchin ihn wie jeden Tag ängstlich vom Haus aus beobachteten, aber er konnte sich nicht überwinden, ihnen ein Zeichen zu machen.
Nach einer Weile kam William zu ihm herunter, aber Lewis brachte noch immer kein Wort heraus. Er war gezwungen, William den Brief zu übergeben, damit er ihn selbst lesen konnte.
William las, blinzelte auf die ungewohnte Schrift, und bewegte stumm die Lippen. Dann sah er auf. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, und er klopfte Lewis auf den Rücken und schrie: »Hurra! Verdammt noch mal! Hurra!« Und danach war alles gut.
Es war später Vormittag, bevor Kincaid nach einem kurzen Aufenthalt im Yard nach Cambridge fahren konnte. Er schlängelte sich konzentriert durch den Londoner Verkehr, bis er die M11 erreichte, schob dann eine Jazzkassette in den Rekorder des Autoradios des Rovers, die Gemma ihm geschenkt hatte, lenkte den Wagen auf die Überholspur und war entschlossen, schnell ans Ziel zu kommen.
Das Stück war eine Improvisation, die Klänge des Pianos gelegentlich so flüchtig wie der Wind im Gras oder so fließend wie das Plätschern eines Bachs. Nach einer Weile schienen sich in der Musik seine Gedanken an Kit mit Erinnerungen aus der eigenen Kindheit zu verweben.
Er hatte die Sommerferien mit der ungezwungenen Freiheit des Kindes verbracht, das auf dem Land aufwächst, hatte morgens Verpflegung eingepackt und war zu abenteuerlichen Wanderungen oder Fahrradtouren aufgebrochen. Manchmal mit Freunden, gelegentlich allein, wenn es ihm gelang, seine kleine Schwester abzuschütteln. Er war auf Bäume geklettert, in Kanälen geschwommen und hatte sich mit Geduld und Hingabe das Angeln beigebracht.
Natürlich mußte es auch Regentage oder
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