Debütantinnen - Roman
gekauften Wohnung zusammenzupacken. »Ich will neu anfangen, ganz woanders, wo mich niemand kennt.«
An diesem Tag war sie vom Optimismus eines Kindes erfüllt gewesen und von einer Zielstrebigkeit und einer Energie, die Rachel seit Jahren nicht mehr an ihr erlebt hatte. Insgeheim hatte Rachel sie um ihren Mut, ihre Waghalsigkeit und ihre Sicherheit beneidet. Anna hatte kein leichtes Leben gehabt. Der Mann, den sie geheiratet hatte, hatte sich als Versager erwiesen, der zu einem verzweifelten, unzuverlässigen Alkoholiker mutiert war. Anna hatte alles getan, um Katie allein großzuziehen, hatte ihr Schweigen und ihre Auflehnung erduldet, gefolgt von ihrer plötzlichen Flucht nach Amerika. Kein Wunder, dass Anna das Weite gesucht hatte. Und sie verdiente ein neues Leben in einem Land, das in Sonne und warmer, mediterraner Lebhaftigkeit badete. Trotzdem war Rachel, als Anna sie in der Woche zuvor angerufen hatte, kurz angebunden gewesen, mürrisch. Mit dem festen Vorsatz, sie später in ihr Adressbuch zu übertragen, hatte sie Annas Nummer auf einen Fetzen Papier gekritzelt. Jetzt war später, und sie fand das verdammte Ding einfach nicht.
Moment mal. Was war das denn?
Sie zog an etwas, dessen Ecke unter einem Stapel alter Mehrwertsteuerformulare hervorlugte.
Eine Postkarte.
Auf den ersten Blick schien es Ingres ’ berühmtes Gemälde Die große Odaliske zu sein. Doch bei näherer Betrachtung waren die blauen Augen der sich zurücklehnenden Kurtisane blassgrün übermalt, dasselbe klare Blassgrün wie Katies Augen. Eine Hälfte des Gesichts war in Schatten getaucht, die andere in Licht. Ihr Blick war scheu und couragiert zugleich, ihre Direktheit eine Maske, hinter der sie sich versteckte. Rachel drehte die Postkarte um und entdeckte auf der Rückseite eine Nachricht in Katies fast hieroglyphischer Handschrift.
Porträt der Künstlerin
xx K
Unten am Rand stand: Die echte Fälschung: Originalreproduktion von Cate Albion .
Cate. Sie hatte alles geändert, was sich ändern ließ − ihren Namen, ihre Haarfarbe, sogar ihren Beruf. Die Reproduktionen alter Meister, die sie jetzt machte, waren himmelweit entfernt von den riesigen Triptychen, die sie in der Kunsthochschule produziert hatte, voller Zorn und überraschender Kraft. Andererseits hatte ein Teil ihrer Begabung von jeher darin gelegen, sich selbst ständig neu zu erfinden, eine breite Palette von Stilen und Ikonografien zu plündern, und zwar mit schier beängstigender Skrupellosigkeit und Geschwindigkeit.
Nichts an Katie war schlicht und ergreifend. Selbst ihre Karriere war von Illusion und Doppeldeutigkeiten überlagert.
Es war nicht das, wonach sie gesucht hatte, doch Rachel schob die Karte nachdenklich in die große lederne Handtasche zu ihren Füßen.
Die echte Fälschung.
Als Kind war Katie schüchtern gewesen, introvertiert; sie war einem vorgekommen wie aus Glas. Doch wenn plötzlich etwas kaputt war, wenn irgendwo etwas fehlte, dann hatte ausnahmslos sie dahintergesteckt. Oder wenn − später − irgendwo eine Party gefeiert wurde, während die Eltern nicht da waren, war es, wie sich herausstellte, immer Katies Idee gewesen. Das Mädchen, das nicht nur hinter dem Fahrradschuppen an der Schule beim Rauchen erwischt wurde, sondern auch beim Verkauf von Zigaretten? Katie. Ein Feuer − ein gewisser Anflug von Mutwillen, der stetig und tief unter der Oberfläche brannte und bei jeder sich bietenden Gelegenheit aufflammte. Überraschend, verrückt, oft witzig und paradox.
Rachel dachte wieder an die verlorene junge Frau, die durch ihre Wohnung in Marylebone schlich. So still, so unsicher.
Als sie Katie gefragt hatte, was sie nach London zurückgebracht hatte, hatte die nur die Achseln gezuckt. »Ich brauche mal eine Pause. Einen klaren Blick.« Dann hatte sie sich zu Rachel umgewandt, hatte plötzlich große Augen gemacht, nervös. »Es macht dir doch nichts aus, oder?«
»Nein, nein, natürlich nicht«, hatte Rachel ihr versichert. »Du kannst bleiben, so lange du willst.«
Danach hatte sie das Thema nicht mehr aufgegriffen. Doch der Ausdruck auf Katies Gesicht hatte sie eine Weile verfolgt.
Rachel zündete sich eine neue Zigarette an, stützte das Kinn in die Hand und nahm einen tiefen Zug.
Es sah Katie gar nicht ähnlich, ängstlich zu sein.
Verschlossen, ja.
Aber ängstlich? Niemals.
*
Jack fuhr in seinem ganzen Stolz, einem alten Triumph, Baujahr etwa 1963, vor der Upper Wimpole Street Nummer 1a vor. Auf der obersten Stufe stand eine
Weitere Kostenlose Bücher