Decker & Lazarus 05 - Du sollst nicht luegen
so richtig an ihn erinnern, Peter. Ich versuche es ständig, aber von Tag zu Tag werden die Erinnerungen einfach immer … verschwommener. Ich erinnere mich an Dinge, die ich mit dir gemacht habe, aber ich kann mich nicht an die Sachen erinnern, die wir früher zusammen gemacht haben.« Der Junge machte sich los und trocknete seine roten Augen an den Ärmeln des Schlafanzugs. »Manchmal … manchmal … glaube ich mich an Sachen zu erinnern … verstehst du?« Er schniefte und trocknete sich erneut die Augen. »Ich glaube, mich sehr klar zu erinnern. Doch dann bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich mich nur daran erinnere, weil Ima davon erzählt hat. Oder ob ich mich daran erinnere, weil es so passiert ist. Und ich fühle mich furchtbar deswegen, weil ich nichts dagegen tun kann. Und es ist erst vier Jahre her. Wenn das so weitergeht, kann ich mich mit Zwanzig an gar nichts mehr erinnern.«
»Doch, das wirst du schon noch.«
»Nein, werd ich nicht.«
Okay, Decker, geh darauf ein. »Du warst sehr jung, als er starb.« Zu jung. Viel zu jung. »Sammy, was hältst du von folgendem? Du schreibst auf, an was du dich von deinem Abba erinnerst, und zeigst es deiner Mutter. Um zu sehen, ob sie sich genauso daran erinnert wie du.«
»Das würde sie zu sehr mitnehmen.«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Doch, das würde es. Ich weiß das, Peter.«
Decker spürte Erleichterung. Es war gut, daß der Junge mit ihm stritt. Es gab nichts Unheimlicheres als Jugendliche in diesem Alter ohne Widerspruchsgeist.
»Schreib es trotzdem auf, und zeig es mir. Wenn ich dann meine, es ist gerade ein günstiger Zeitpunkt, werde ich es ihr zeigen. Wie findest du das?«
Sammy zuckte die Achseln.
»Ganz wie du willst, Junge.« Decker sah auf sein angenagtes Mittagessen. Sein Magen rebellierte, seine Schulter pochte, und er merkte, daß er Kopfschmerzen bekam. Er fischte zwei Ecotrin aus seiner Jackentasche und schluckte sie ohne Flüssigkeit. »Denk einfach mal drüber nach.«
»Okay.« Sammy zögerte. »Würde es dir denn nichts ausmachen? Ich meine, wenn ich … na ja, über meinen Abba rede?«
Wenn er ganz ehrlich war, machte es ihm schon etwas aus, und er kam sich deswegen engherzig vor. Aber er hatte sich soweit im Griff, daß er seine kleinlichen Bedenken nicht dem Wohlergehen seines Stiefsohnes in den Weg stellen würde.
»Sammy, du und dein Bruder, ihr könnt soviel über euren Abba reden, wie ihr wollt. Im übrigen würde ich auch gern mehr über euren Abba erfahren. Aber es kommt mir irgendwie komisch vor, eure Mom nach ihm zu fragen.«
»Das kann ich verstehen.«
Decker nickte zustimmend. Vater und Sohn kamen sich näher. Prima!
»Weißt du was, Peter?«
»Was gibt’s, mein Junge?«
»Irgendwie hab ich ein schlechtes Gewissen, daß ich nicht Dad zu dir sage.«
Oje. »Möchtest du denn Dad zu mir sagen?«
»Eigentlich schon. Aber es fällt mir … nicht so leicht. Nicht daß ich dich nicht als meinen Dad sehe. Das wollte ich dir schon die ganze Zeit sagen.«
»Wow, da tut sich ja einiges bei dir.«
»Wie siehst du das denn?«
»Sam, es ist mir egal, wie du mich anredest. Wenn du Dad zu mir sagen willst, dann ist das prima. Aber hab bloß kein schlechtes Gewissen, wenn du lieber weiter Peter sagen möchtest.«
»Ich glaube, Yonkie würd gern Dad zu dir sagen. Wir haben darüber geredet – nicht daß du meinst, daß wir viel hinter deinem Rücken über dich reden.«
»Ich hab viel hinter dem Rücken meiner Eltern über sie geredet.«
Sammy lächelte. Diesmal ungezwungen. »Na jedenfalls, als du und Ima geheiratet habt, hat Yonkie mich gefragt, wie wir dich denn anreden sollten. Und ich … ich wußte, ich könnte nicht Abba zu dir sagen. Und Dad zu dir zu sagen kam mir auch komisch vor. Da hat Yonkie gemeint, wenn ich nicht Dad zu dir sage, würd’ er es auch nicht tun. Aber ich glaube, er hätte es eigentlich gern gewollt.«
»Warum versuchst du nicht …?«
»Ich weiß, ich weiß. Mit ihm darüber zu reden. Reden, reden, reden. Ich weiß nicht.«
Decker strich dem Jungen über die heiße Wange. »Mach doch folgendes. Nenn mich eine Woche lang Dad. Oder noch besser, nenn’ mich einen Monat lang Dad. Und wenn es dir nach einem Monat immer noch lieber ist, mich Peter zu nennen, dann sag wieder Peter. Oder Akiva. Mein jüdischer Name bedeutet mit sehr viel. Es könnte der spezielle Name zwischen uns werden, wenn dir Dad unnatürlich vorkommt.«
»Akiva. Nicht schlecht. Da bin ich gar nicht drauf gekommen.
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