Decker & Lazarus 07 - Weder Tag noch Stunde
gehört, die voller Trauer waren über das, was sie getan hatten.
Er sagte: »Wenn das zutrifft, wenn es sich tatsächlich so abgespielt hat, haben wir ein großes Problem, Marge.«
»Ja, ich weiß, es heißt ›Beweise‹.«
»Nein, es heißt, die Jungen«, verbesserte Decker. »Was ist mit Yaloms Söhnen? Sie sind geflohen. Sie müssen gewußt haben, was los war. Nimm mal an, sie wußten, daß Gold am Abzug war. Was glaubst du wohl, wird jetzt mit ihnen passieren?«
Marge atmete hörbar aus. »Na ja, wir wissen, daß die Jungen abgehauen sind. Hoffen wir, daß sie entkommen konnten.«
»Wohin?«
»Nun, wenn ich ein Teenager wäre und flüchten müßte, würde ich mir etwas möglichst weit weg bei Verwandten suchen.«
»Und für die Yalom-Jungen wäre das was?« fragte Decker.
»Israel«, stellte Marge fest.
»Und das ist genau das, was ich befürchte. Als Gold rauskam, hat er gesagt, er wolle die Jungen suchen –«
»Er war betrunken.«
»Vielleicht nicht so betrunken, wie es aussah. Wenn Gold irgendwas mit dem Tod seines Partners zu tun hatte, sind wir in Schwierigkeiten. Denn jetzt vermuten wir die Jungen in Israel, in Golds Revier. Wenn wir recht haben mit dem, was wir sagen, sind die Jungen dort in größerer Gefahr als hier.«
»Klingt logisch.« Marge seufzte. »Wir müssen die Jungen finden, bevor Gold es tut.«
»Laß es uns noch mal bei der Schwester versuchen, Orit«, sagte Decker. »Wenn die Jungen bei Verwandten sind, wird sie es wissen.«
»Sie hat uns schon erklärt, daß sie nicht weiß, wo sie sind.«
»Du kennst mich, Marge. Für mich ist ein Nein noch lange nicht endgültig.«
Orit tigerte im langen, schwarzen Rock mit glitzerbesticktem Pullover in Übergröße durch ihr Wohnzimmer und Nebelschwaden von Nikotin vor sich hin.
»Sie klären den Mord an meinem Bruder nicht auf. Sie klären überhaupt nichts auf. Alles, was Sie tun, ist beschuldigen. Ich habe es Ihnen einmal gesagt, und ich sage es Ihnen noch einmal: Ich weiß nichts von den Jungen.«
Decker saß mit gezücktem Notizbuch auf dem Plüschsofa, aber die Seite war leer. Marge saß neben ihm.
»Sind Sie sicher, daß sie nicht bei Ihren Eltern in Israel untergekommen sind?« Marge klapperte mit dem Stift auf ihrem Notizbuch herum. Auch ihre Seite war leer. »Denn wenn sie es sind, könnten sie in Gefahr sein.«
»Ja, Mrs. Detective, das haben Sie schon verkündet. Und ich sage Ihnen, daß sie nicht bei meinen Eltern sind. Bitte, rufen Sie sie nicht an. Sie haben schon genug durchgemacht. Bitte. Lassen Sie sie einfach in Ruhe.«
»Mrs. Bar Lulu«, beruhigte Decker. »Wir versuchen zu helfen –«
»Wenn Sie helfen wollen, lassen Sie sie in Ruhe. Sie machen Höllenqualen durch. Ich fahre zu ihnen, sobald Ihre Leute die Leichen zum Begräbnis freigeben. Wie lange dauert das, um Himmels willen?«
»Die Leichen sind erst vor ein paar Tagen gefunden worden –«
»Ach, ihr habt keine Gefühle, ihr Leute hier. Ich warte und warte und warte und kann meine Familie nicht beerdigen. Ich muß mit den Leichen nach Israel, für die Schiwe – die Trauertage. Verstehen Sie das?«
»Ich weiß, was Schiwa ist«, sagte Decker.
»Stimmt. Sie sind Jude. Also wissen Sie, wie wichtig das Begräbnis ist.«
Decker nickte.
Orits Stimme wurde leiser. »Mein Bruder … er und Dalia hätten in Israel beerdigt werden wollen. Alle Juden sollten in Israel beerdigt werden.« Sie atmete einen Mundvoll Rauch ein und stieß ihn in einem einzigen großen Schwall wieder aus. »Ich helfe Ihnen, so gut ich kann. Lassen Sie nur meine Eltern in Ruhe.«
Ein paar Sekunden blieb es still. Dann meinte Decker: »Ihre Eltern wissen etwas, stimmt’s?«
Orit schüttelte den Kopf. »Lassen Sie sie in Ruhe.«
»Orit«, sagte Decker sanft. »Ich versuche zu helfen. Ich versuche …« Er stand auf, ging zu ihr hinüber und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie erstarrte unter der Geste. Sofort trat er zurück.
»Sie sind ganz schön zäh, wissen Sie das?«
»Wenn Sie in einem Land wohnen würden, wo ständig Krieg ums Überleben herrscht, wären Sie auch zäh. Ihr habt Glück, ihr Amerikaner, für euch finden Kriege immer nur im Land von anderen statt.« Wieder verstummten alle. Orit drehte sich um und zeigte auf Decker. »Sie haben so was im Gesicht. Sie waren im Golfkrieg?«
Decker schüttelte den Kopf. »Vietnam.«
»Ah, stimmt. Das hatte ich vergessen. Ein Fiasko, das ausnahmsweise nicht unseres war.« Sie musterte Decker. »Genau der gleiche
Weitere Kostenlose Bücher