Decker & Lazarus 07 - Weder Tag noch Stunde
Decker inne, bevor er sprach. Seine Augen bohrten sich dabei in die von Bernstein. »Ich dachte, im Judentum gäbe es ein Konzept namens Pikuach-nefesch. Daß die Rettung eines Lebens Vorrang vor allem anderen hat!«
Bernstein starrte Decker an. »Sie lernen, Sergeant?«
Decker starrte zurück. »Was?«
»Sie wissen über Pikuach-nefesch Bescheid, Sie haben also einiges gelernt.« Bernstein zog die Schuhspitze über den Steinboden. »Sehen Sie, wenn Sie lernen würden, dann würden Sie ja eventuell drinnen in die Bejss Midrasch gehen wollen, um etwas nachzuschlagen.«
Decker wußte, daß die Bejss Midrasch der Studiersaal mit den Nachschlagewerken für die Schüler der Jeschiwa war. Die meisten Schüler trafen sich dort zum Unterricht und zum Lernen.
Bernstein lieferte ihm tatsächlich einen Vorwand, um sich den Großteil der Jungen in der Jeschiwa anzusehen.
Decker sagte: »Ich studiere gerade B’rachos und könnte Referenzliteratur gebrauchen.«
»Gut, dann bringe ich Sie zur Bejss Midrasch. Wer bin ich denn, um einen Lernenden zurückzuweisen?« Bernstein warf Rina einen entschuldigenden Blick zu. »Es wäre besser, wenn Sie hier warten würden. Sie könnten eine gewisse Verwirrung –«
»Ich weiß, ich weiß. Ich werde hier warten.«
Bernsteins Augen blieben an Decker hängen. »Sie haben wohl keinen schwarzen Hut dabei, oder?«
»Nein, sehe ich zu gojisch aus?«
»Eher wie ein weltlicher Jude, und das ist genauso auffällig. Sie werden die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wollen Sie das?«
»Es wäre besser, wenn ich so aussehen würde wie alle anderen.«
Bernstein musterte Decker und zuckte dann resigniert die Achseln. »Das werden Sie nicht. Aber vielleicht kann ich Ihnen helfen, daß Sie nicht allzu sehr herausstechen. Warten Sie hier. Ich hole Ihnen einen Hut.«
Rina sah schon wieder auf die Uhr, nur um entgeistert festzustellen, daß nur zehn Minuten vergangen waren. Jetzt kannte sie das Geheimnis von Einsteins Relativitätstheorie. Endlose Zeit hatte nichts mit Lichtgeschwindigkeit oder der Masse zu tun, aber alles damit, in einem kalten Raum auf einem gliedergefrierenden Fußboden zu stehen und nichts zu tun zu haben. Da wurden zehn Minuten zu zehn Stunden in angenehmer Erdzeit.
Niemand war durch das Portal gekommen. Es war, als wäre der Eingang eine Kontrollstation zum Fegefeuer. Ganz plötzlich ergab der Ablaßhandel einen Sinn.
Die Einsamkeit verschaffte ihr die unwillkommene Möglichkeit, über Peters Einschätzung von Honey Klein und ihrem Village und über die jüdische Scheidung nachzudenken.
Es war nicht so, daß das Judentum prinzipiell frauenfeindlich war. Tatsächlich waren die Gesetze zur Eheschließung und Scheidung ursprünglich zum Schutz beider Partner gedacht gewesen. Es stimmte zwar, daß die Männer schon aus so lächerlichen Gründen wie schlechtes Kochen die Scheidung einreichen konnten, aber Frauen konnten das ebenfalls aus vielen Gründen – wenn der Mann für sie unattraktiv war, wenn er sie sexuell nicht befriedigte. War das bei Gershon nicht der Fall gewesen?
Das Gesetz war auf Honeys Seite. Gershon hätte in die Scheidung einwilligen müssen. Und als er es nicht tat, taten die Rabbis das, was ihnen nach jüdischem Recht erlaubt war.
Und dennoch hatte Peter recht, egal von welcher Seite sie die Sache betrachtete. Es war immer noch Mord. Sie fragte sich, wie weit Peter wohl überprüfen würde, was er vermutete.
Ein kleiner alter Mann kam durch die offenen Türen, sein Mantel schleifte auf dem Boden, der schwarze Hut war zu groß und saß leicht schräg. Sein ganzes Auftreten wirkte irgendwie durcheinander. Er hatte einen langen weißen Bart und sprach Rina mit einer hohen Stimme an. Er sprach hebräisch mit einem schweren, marokkanischen Akzent.
»Ist niemand hier?«
Rina zuckte die Achseln.
Der alte Mann rieb sich die Hände. »Haben Sie niemanden gesehen?«
Wieder zeigte Rina mit einem Schulterzucken ihr Unwissen.
»Warten Sie auf jemanden?«
»Ja.«
»Ihren Sohn?«
»Meinen Mann.«
Der alte Mann zog eine Karte heraus. »Vielleicht möchte er mir eine kleine Spende geben.«
Die Karte zeigte Rina, daß er für die Jeschiwa Rev Yosef Caro arbeitete. Er war ein Meschulech – jemand, der herumgeht und Geld für eine Institution oder eine arme Familie sammelt und einen Anteil von dem zurückbehält, was er bekommt. Die meisten Juden nannten sie Schnorrer.
Der Mann sagte: »Sie können auch etwas spenden.«
Rina lächelte müde. »Ich habe Ihre
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