Decker & Lazarus 07 - Weder Tag noch Stunde
begannen zu zittern. »Ich hatte Angst, daß sie wütend auf mich sein würde, weil ich es ihr nicht schon früher verraten habe. Ich dachte doch immer, Dov würde sich wieder melden. Ich wußte nicht, daß Dov … ich wußte nicht, daß die ganze Familie …«
»Ja?«
»Ich wußte nicht, daß sie verschwunden sind. Ich dachte nur, Dov hätte einfach die Nase voll, ich dachte, er wollte einfach raus, wissen Sie?«
»Nein, ich weiß nichts«, sagte Decker. »Bitte, sag du es mir.«
Sharoni schlug die Hände vors Gesicht und wischte sich dann über die Wangen. »Mein Onkel ist Diamantenhändler. Er ist sehr reich. Haben Sie das Haus gesehen?«
Decker nickte.
»Ist es nicht gigantisch?«
Wieder nickte Decker.
»Onkel Arik ist richtig reich. Ich meine, so ganz, ganz richtig! Er hat in den Achtzigern ein Vermögen mit Diamanten gemacht. Dov hat mir erzählt, daß er eine Masse von seinem Geld damit verdient hat, den Japanern und den Hongkong-Chinesen große Steine zu verkaufen.«
»Dov scheint eine Menge vom Geschäft zu verstehen.«
»Er arbeitet da. Sie arbeiten da – alle beide. Meine Cousins … eigentlich müßte man doch annehmen, daß sie total verwöhnt sind, stimmt’s?«
»Wahrscheinlich.«
»Sind sie aber nicht, kein bißchen. Sie müssen um jede Kleinigkeit betteln. Mein Onkel ist so. Ima erzählt immer, daß er schon als kleiner Junge so war.«
»Und wie meint sie das?« fragte Decker.
»Ich glaube, sie meint, daß er schon immer ein alter Geizkragen –« Sharoni wurde rot. »Ich meine, daß er schon immer sehr sparsam mit dem Geld umgegangen ist.«
»Seine Kinder haben was gegen ihn?«
Das Mädchen schaute in den Schoß. »Es ist nicht, daß meine Cousins Arbeit nicht wichtig fänden. Ich finde Arbeit auch wichtig. Jeder muß arbeiten, um sich nützlich fühlen zu können. Meine Mom muß nicht arbeiten, aber sie tut es trotzdem. Tante Dalia müßte ganz bestimmt nicht arbeiten, aber sie tut es. Mein Onkel übertreibt es einfach. Dov und Gil haben das volle Programm in der Schule, plus Sport in der Freizeit und Musikstunden. Gil ist Leistungsschwimmer. Sie sind beide gute Schüler. Aber das ist immer noch nicht genug. Onkel Arik läßt sie zwei Tage in der Woche und am Wochenende in die Stadt kommen, um das Geschäft mit Diamanten zu erlernen. Mit Gil rede ich nicht so viel, aber Dov ist es furchtbar lästig. Er ärgert sich sehr darüber.«
»Wie bringt er diesen Ärger zum Ausdruck?«
»Er schmollt. Flieht in seine Gedanken. Was soll er sonst machen?«
»Er flieht? Meinst du Drogen?«
Sharoni zuckte die Achseln. »Vielleicht ein bißchen Shit. Aber eigentlich meine ich eine geistige Flucht. Früher war er mal sehr religiös. Ich glaube, tief im Innern ist er es noch, aber …«
Decker ermutigte sie weiterzureden.
»Dov wollte orthodoxer sein … traditioneller.«
»Ich bin traditionell. Ich verstehe das.«
Sharoni musterte ihn. »Sie sehen nicht jüdisch aus, wissen Sie das?«
»Du bist nicht die erste, die mir das sagt. Weiter, Sharoni. Was wurde aus Dovs Ausflug in die Religion?«
»Nichts, das war ja das Problem. Onkel Arik ist entschieden anti-orthodox. Dov wollte versuchen, koscher zu essen, aber mein Onkel ließ es nicht zu. Verstehen Sie, Onkel Arik war nicht einfach nur … dagegen. Er war richtig gemein.«
»Hat er sich über Dov lustig gemacht?«
»Genau. Als wären seine Gefühle unwichtig.« Sharoni zog die Schultern hoch. »Dem Onkel waren sie es jedenfalls nicht. Er wollte, daß seine Söhne genauso werden wie er.«
Na bravo, dachte Decker lakonisch. »Was war mit Gil?«
»Gil ist ein Sonntagskind. Er kann sich besser verstellen.« Das Mädchen biß sich auf den Fingernagel und erinnerte Decker mit dieser Geste sehr an ihre Mutter. Dann sah Sharoni auf. »Ich glaube nicht, daß Gil mehr fürs Geschäft übrig hat als Dov.«
»Versteht Gil sich mit deinem Onkel?« fragte Decker.
Sharoni zuckte die Achseln. »Ihm geht mein Onkel genauso auf die Nerven.«
»Dein Onkel scheint einer Menge Leute auf die Nerven zu gehen«, bemerkte Decker.
»Meinen Sie seinen Kompagnon, Mr. Gold?«
Decker schwieg. Er war erstaunt, daß das Mädchen über den Konflikt Bescheid wußte.
Sharoni erklärte. »Dov und ich reden viel. Er meinte, sein Vater und Mr. Gold würden sich ständig anbrüllen. Und wissen Sie was?«
»Was?«
»Dov hat gesagt, Mr. Gold hätte meistens recht. Einmal hat Dov Mr. Gold in Gegenwart seines Vaters zugestimmt. Onkel Arik ist total ausgeflippt.
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