Decker & Lazarus 07 - Weder Tag noch Stunde
war sie nur höflich, aber Rina glaubte das nicht.
Laß dir Zeit, Rina. Wir sind alle so aufgeregt, einfach mal was Neues zu sehen!
Sind sie nicht müde?
Machst du Witze? Die Kinder sind begeistert, hier zu sein. Es ist so turbulent – so voller Leben.
Honeys Gefühlsausbruch hörte sich echt an, und das machte Rina nachdenklich. Soviel Begeisterung über einen Flughafen, das mußte man sich mal klarmachen. Sie konnte sich gut vorstellen, daß er für Kinder irgendwie aufregend war – die ganzen großen Jets, die starten und landen –, aber Honey klang selber völlig aufgedreht. Vielleicht war sie ja auch nur glücklich, ihr provinzielles Dasein kurzfristig hinter sich zu lassen, da war halt alles wunderbar.
Laß dir Zeit! Honeys Stimme war ein richtiger Singsang gewesen. Wir haben es nicht eilig.
Vielleicht war jetzt die Zeit, innezuhalten und Kerosin zu schnuppern.
Hannah fing an zu quäken. Rina gab ihr ein Fläschchen mit Apfelsaft. Das Baby trank gierig und schlug beim Nuckeln auf die Flasche.
Rinas Betrachtungen zu Honey wurden unterbrochen, als das Radioprogramm wieder zu den Nachrichten wechselte. Und wieder hatte Rina das Wort »Verschwinden« aufgeschnappt, aber den Namen der Familie verpaßt. Doch nun hörte Rina genau zu.
Sie lebten in West Hills. Eine feine Wohngegend mit Einzelhäusern. Alles schien unberührt. Die Nachbarn waren verwirrt und machten sich Sorgen. Dann ein Interview mit einem der Nachbarn. Die Polizei bat um die Mithilfe der Bevölkerung.
Schließlich wiederholte der Nachrichtensprecher den Familiennamen: Yalom. Ja, das war Peters – und Marges – Fall. Einen Namen wie Yalom konnte sie nicht vergessen. Rina hatte noch zu Peter gesagt, daß Yalom auf Hebräisch Stein bedeutete.
Wahrscheinlich hat es irgendwo in ihrem Stammbaum mal einen Stein gegeben.
Peter war völlig erstaunt gewesen. Was ist Ihr Geheimnis, Sherlock?
Es ist einfach nur das deutsche Wort dafür – das jiddische. Wahrscheinlich wurde der Name hebräisiert, als die Familie nach Israel kam. Das wird häufig so gemacht.
Peter sprach in völlig ernsthaftem Ton. Vielleicht solltest du den Fall übernehmen? Wenn du mit Mrs. Bar Lulu hebräisch reden könntest, würde sie dir vielleicht vertrauen.
Mehr hatte er nicht gesagt. Rina konnte Peters Gedanken mittlerweile immer besser lesen. Natürlich war es ein Scherz gewesen, aber so ein ganz klein wenig war doch etwas Wahres dran an seinem Vorschlag. Sie hatte leichthin erwidert, daß sie, wenn nötig, als Assistentin einspringen könnte. Peter hatte sich über den Schnurrbart gestrichen und darauf geschwiegen. Was hieß, daß er das gar nicht ganz ausschließen wollte.
Nicht, daß sie darauf erpicht gewesen wäre, in Peters Arbeit mit einbezogen zu werden. Oder überhaupt in irgendwelche Arbeit außer Hausarbeit, wenn sie ehrlich war. Rina war sehr zufrieden damit, daheim zu bleiben und sich um Hannah zu kümmern – ihr letztes Baby. Ein kurzer Schnitt mit dem Skalpell, und sie konnte keine Kinder mehr bekommen. Wie viele Male hatte sie die Szene wohl schon in Gedanken durchgespielt? Ja, ja, es war ein Notfall gewesen. Ja, der Arzt hatte vollkommen recht gehabt. Ja, es war um ihr Leben gegangen. Operieren lassen oder sterben. Es war alles absolut einwandfrei verlaufen. Sie sollte dankbar sein.
Das war sie auch.
Aber nicht ständig. Mit einunddreißig Jahren hatte Rina noch mit mehr Kindern gerechnet und auch mehr gewollt. Sie hatte von früh auf das Gefühl gehabt, für die Mutterschaft geboren zu sein. Anders als viele Frauen in der heutigen Zeit betrachtete Rina das Aufziehen von Kindern nicht als Last, sondern als ein Privileg. Nicht, daß sie nicht auch mal wütend auf ihre Kinder war und manchmal am liebsten mit dem Kopf gegen die Wand gerannt wäre. Aber das gehörte zum Alltag und war schnell wieder vorbei. Es gab halt keine perfekte Art, Kinder großzuziehen. Elternschaft bedeutete ewig verschwimmende Grenzen und eine Menge Graustufen. Manche Leute fühlten sich verunsichert ohne feste Verhaltensmaßregeln. Rina fand die Freiheit erfrischend. Wahrscheinlich, weil sie so viele Jahre hindurch mit Zahlen umgegangen war – erst als Mathematiklehrerin, dann in der Buchhaltung. Die notwendige Präzision hatte sie den letzten Nerv gekostet.
Rina hatte sich massenhaft Kinder gewünscht. Aber das stand jetzt nicht mehr zur Debatte. Sie ermahnte sich dauernd, der Vergangenheit nicht nachzujammern. Wie dem auch sei, wer Kinder hatte, wußte von vornherein,
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