Decker & Lazarus 07 - Weder Tag noch Stunde
setzte sich auf, Rina immer noch auf dem Schoß. »Also?«
»Nach dem, was der Rebbe erzählte, war Honeys Einschätzung ihres Lebens ziemlich zutreffend. Gershon war schon immer … anders, ein sonderbarer Mann. Sehr fromm. So einer, der sich weigert, während irgendeines Teils des Gebets zu sitzen. Du weißt ja, wie lang die Sabbath-Gebete sein können.«
Das wußte er allerdings. Selbst die schlichtesten Gebetsversammlungen dauerten immer noch mindestens ein bis anderthalb Stunden, bis alle erforderlichen Gebetsverse gesprochen waren. Wenn dann noch ein Vorsänger dazukam, konnte sich der Gottesdienst ohne weiteres auf zwei oder mehr Stunden ausdehnen.
Stirnrunzelnd fragte er: »Aber sie läuft ihrem Mann doch nicht deshalb davon, oder?«
»Nein. Ich versuche nur, dir den Hintergrund zu vermitteln.«
»Mach weiter.«
Rina räusperte sich. »Ich habe auch schon Leute gekannt, die während des ganzen Gottesdienstes stehen geblieben sind. Aber Gershon ging noch weiter. Am Schabbes nahm er zum Beispiel am Frühgebet und zusätzlich an dem normalen Abendgebet teil. Und beide Male blieb er die ganze Zeit stehen.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht. In der Halacha gibt es dafür jedenfalls keine Grundlage. Man kriegt keine Sammelpunkte, wenn man dieselben Gebete zweimal sagt.«
»Der Typ ist also ein Fanatiker. Manche Leute würden uns auch als Fanatiker bezeichnen.«
»Das ist nicht alles, Peter. Ungefähr vor anderthalb Jahren muß Gershon irgendeine traumatische Erfahrung gehabt haben. Wie Honey schon erzählt hat, will er nicht darüber sprechen, aber es muß ziemlich schlimm gewesen sein. Denn er hat sich drastisch verändert. Besonders freundlich war er noch nie, aber er sagte wenigstens Hallo oder Schalom aleichem. Und er war höflich. Doch unvermittelt redete er nicht mehr mit den Leuten, Peter. Er kümmerte sich nicht mehr um sein Äußeres. Hörte auf zu baden.«
»Woher weiß der Rebbe über seine Badegewohnheiten Bescheid, wenn nicht durch Honey?«
»Weil Gershon anfing, nachts durch die Straßen zu wandern und dabei Selbstgespräche zu führen.«
Decker verzog das Gesicht. »Na großartig. Und wir nehmen diese Leute in unser Haus auf.«
»Könntest du mich bitte zu Ende reden lassen?«
Decker griente reumütig. »Red weiter.«
»Der Rebbe sagte, wenn ihm jemand auf der Straße begegnete und fragte, was er denn da so ganz allein treibe und mit sich zu reden habe, habe er gesagt, er versuche nur, sich über alles klar zu werden. Er … drückte sich verständlich aus, wenn man mit ihm sprach. Aber sein Verhalten …« Rina biß sich auf die Lippen. »Niemand, nicht einmal Honey oder der Rebbe, wußte genau, worüber er sich klar werden wollte.«
»Hat er einen Job?«
»Ja, er ist Diamantenhändler.«
»Ach ja, stimmt. Und er ist auch noch in der Lage, seine Arbeit als Diamantenhändler auszuüben?«
»Anscheinend ja«, sagte Rina. »Sie sind keine Millionäre, aber der Rebbe meint, er kommt gut zurecht.«
»Der Rebbe kennt sein Einkommen?«
»Gershon gibt zwanzig Prozent für wohltätige Zwecke. Auf den Penny genau. Er zeigt dem Rebbe seine Steuererklärung, dann schreibt er einen Scheck über zwanzig Prozent der Bruttosumme aus. Nach dem Gesetz muß man nur zehn Prozent geben. Aber Gershon hat es einen Schritt weiter getrieben. Der Rebbe wollte mir natürlich nicht sagen, wie viel er verdient, aber er hat mir gesagt, daß er gutes Geld macht. Da kann das Problem nicht liegen.«
»Vielleicht doch, wenn er den falschen Leuten Geld schuldet.«
Rina überlegte. »Nicht daß ich wüßte. Der Rebbe hat nichts von bedrohlichen Telefonanrufen gesagt.«
»Aber Honey.«
Rina nickte. »Vielleicht stimmt es ja. Vielleicht ist es das, was Gershon auf der Seele liegt. Oder vielleicht findet alles nur in seiner Seele statt. Meine Geschichte ist aber noch nicht zu Ende.« Sie seufzte. »Ungefähr vor sechs Monaten hat er sich selber zum Nazir erklärt.«
»Was ist ein Nazir?«
»Kannst du dich noch an Samson erinnern, aus Samson und Delilah? Er war ein Nazir. Deshalb war sein Haar so lang. Über Jesus von Nazareth weißt du Bescheid?«
»Klar.«
»Manche sagen, Jesus sei ein Nazir gewesen – ein Nazarit nennt man das, glaube ich. Wenn ich mich recht erinnere, legen Nazariten ein Gelübde ab, das besagt, daß sie keinen Alkohol trinken, sich nicht die Haare schneiden oder rasieren und daß sie sich nicht durch den Kontakt zu toten Körpern verunreinigen werden.«
Decker lachte.
»Was ist?«
»Ich
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