Decker & Lazarus 09 - Totengebet
wankte. Das Gewicht ihrer Einkäufe verursachte ihr Schmerzen im Rücken und in den Schultern. Ihre Armmuskeln wurden lahm, während sie in ihrem Geldbeutel nach dem Schlüssel kramte. Schließlich gab sie es auf, stellte die Einkaufstüten auf der Veranda ab und durchwühlte ihre Handtasche. Sie hatte stechende Kopfschmerzen. Ihr Kopftuch drückte sie wie ein eiserner Ring.
Was für ein Morgen! Peter und die Jungen hatten verschlafen. Das Frühstück war hektisch und im Streit vergangen. Dann hatte Hannah plötzlich beschlossen, nicht in den Kindergarten zu wollen. Auf ihrer Uhr war es halb elf. Sie hatte das Gefühl, es sei mitten in der Nacht.
Sie schloss die Haustür auf und griff sich zwei Einkaufstüten. Kaum hatte sie die Schwelle des Hauses überschritten, riss sie sich das Tuch vom Kopf, schüttelte ihr Haar aus und lief weiter in die Küche.
Warum musste Hannah ausgerechnet an diesem Morgen einen ihrer Anfälle haben? Freitag war der anstrengendste Tag der Woche. Das Haus musste geputzt, die Sabbat-Speisen mussten zubereitet werden.
Sie stellte die Tüten auf die Küchentheke, drehte sich um und fuhr entsetzt zurück.
Bram stellte die restlichen drei Einkaufstüten auf den Küchentisch. »Hallo.«
»Mein Gott, hast du mich erschreckt!«
»Entschuldige.«
Sie atmete tief ein und aus. Dann wandte sie ihm den Rücken zu und begann Einkäufe auszupacken. »Du darfst nicht hier sein. Ich kann unmöglich allein mit dir hier bleiben, das weißt du.«
»Aber mit mir allein in einem Auto fahren, ist in Ordnung?«
»Die Situation war völlig anders. Außerdem ist ein Auto ein öffentlicher Ort. Mein Haus ist das nicht. Außerdem macht eine awejre, ein Unrecht, das andere nicht wieder gut.«
»Dann machen wir eben einen Spaziergang.«
Sie sah ihn an, versuchte ihrem Ärger Herr zu werden. »Ich möchte nicht spazieren gehen. Ich habe zu tun.«
Bram ging zur Küchentür und öffnete sie. »So in Ordnung?«
Rina verkniff sich eine böse Bemerkung. Es reizte sie, dass er sie zu belehren versuchte, mit seinen Kenntnissen jüdischer Gesetze über sie bestimmen wollte. Ein Mann und eine Frau durften aus Gründen der Schicklichkeit nicht in einem geschlossenen Raum allein sein, es sei denn, sie wären verheiratet. Die Öffnung einer Tür, die ins Freie führte, machte aus einem privaten einen öffentlichen Raum. Damit war ein solches Zusammensein theoretisch zumutbar. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Also?«
»Darf ich mich setzen?«
»Tu, was du willst.« Sie wandte sich wieder ihren Einkäufen zu. Dann hielt sie inne, zählte stumm bis fünf. »Darf ich dir was zu trinken anbieten?«
»Nein, danke.« Bram saß am Küchentisch, zog einen Umschlag mit Fotos aus der Tasche. »Bevor ich’s vergesse … Ich habe meinen Schrank in der Pfarrei aufgeräumt. Dachte, dass du die vielleicht gern haben würdest.«
Rina nahm die Fotos und sah sie hastig durch.
Alte Schnappschüsse aus längst vergangenen Tagen. Der vielleicht vierjährige Schmueli auf Yitzchaks Schoß. Vor den beiden aufgeschlagen ein einfaches hebräisches Kinderbuch. Eine Ausgabe für Kinder der Lech Le’cha, dem dritten Kapitel aus dem Ersten Buch Mose, der Genesis, der Geschichte vom Ruf Abrahams. Schmueli deutete auf eine Textpassage, das Gesicht in kindlicher Konzentration erstarrt.
Yitzys schmales Gesicht hatte einen heiteren Ausdruck, seine Augen einen vergeistigten Glanz, er war blass, aber sein Teint klar und rein. Den schönen Mund hatte er zu einem Lächeln verzogen, seine Hand hielt das Handgelenk des Sohnes umfasst. Es war erstaunlich, wie verschwommen die Bilder der Erinnerung bei ihr inzwischen geworden waren. Es erschien ihr beinahe unvorstellbar, dass sie mit diesem gesunden, gut aussehenden Mann verheiratet gewesen sein sollte. Drei Fotos zeigten dieselbe Szene.
Dann kamen zwei weitere. Der kleine Jakob auf Yitzys Schultern, die kleinen Hände in Yitzys sandfarbenem Bart gekrallt. Im Hintergrund eine junge Frau im langen Rock und tichel.
War sie je so jung gewesen? Sollte das einmal ihr Leben gewesen sein? Ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt, sie konnte den Anblick der Bilder nicht mehr ertragen. Hastig steckte sie sie zurück in den Umschlag.
»Danke. Ich klebe sie in die Alben der Jungen. Die freuen sich bestimmt darüber.«
»Bitte. Gern geschehen.«
Bram richtete den Blick auf sie. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte der Anblick einer Rina mit wallendem, gelöstem Haar ihn krank vor Verlangen gemacht,
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