Decker & Lazarus - 18 - Missgunst
Stecker ziehen, und die beiden New Yorker waren mit dieser Entscheidung nicht glücklich?«
»Genau das meine ich«, sagte Marge, »aber selbst wenn das der Fall wäre: Würde das bei Grant genug Wut und Feindseligkeit entstehen lassen, um seine Eltern zu töten?«
»Wir wissen nicht genau, wie Grant zu seinen Eltern stand«, gab Decker zu bedenken. »Vielleicht ist da jede Menge Schauspielerei mit von der Partie.«
»Wohl wahr«, sagte Marge. »Interessanterweise hast du nicht danach gefragt, ob es auch bei Mace zu genug Wut und Feindseligkeit kommen könnte, um seinen Bruder zu töten.«
»Kain und Abel«, sagte Decker, »das allererste Buch. Genau vier Menschen gibt es im frisch geschaffenen Universum, und zack, erschlägt der eine Bruder den anderen aus Eifersucht. Was sagt uns das über die menschliche Rasse?«
»Nichts Gutes über uns oder den Oberboss im Himmel«, meinte Marge. »Jeder Polizeichef einer größeren Stadt mit einer fünfundzwanzigprozentigen Mordrate wäre in null Komma nichts gefeuert.«
Der Mann, der in den Zeugenstand gerufen wurde, war hispanischer Abstammung.
Kein Wunder.
Den ganzen Nachmittag lang trat ein Latino nach dem anderen auf, vom Kläger – ein bulliger Typ mit Tattoos – bis zum Angeklagten – noch ein bulliger Typ mit Tattoos. Rina konnte jetzt sämtliche Varianten mutmaßlicher Körperverletzung und tätlichem Angriff in einem Wort zusammenfassen.
Alkohol.
Alle Beteiligten, die Damen wie auch die Herren, waren zum Zeitpunkt der angeblichen Tat betrunken. Normalerweise wäre das Handgemenge am nächsten Tag in Vergessenheit geraten, wenn nicht zufällig eine Polizeistreife vorbeigekommen wäre, als die Schlägerei gerade tobte. Den Polizisten gelang es, jeden festzunehmen, der nicht schnell genug das Weite gesucht hatte, wobei sich die verbliebenen Pechvögel gegenseitig beschuldigten, den Streit angezettelt zu haben. Zeugen lagen plötzlich alle mit schlechter Erinnerung danieder, ausgelöst durch kalte Füße.
Der aktuelle Mitstreiter im Zeugenstand machte da auch keine Ausnahme.
Wenigstens bekam die Jury heraus, wer dieser ewig grinsende Tom-Cruise-Verschnitt war.
Als die erste Zeugin aufgerufen wurde – eine hispanische Frau um die fünfzig im roten Minirock, mit künstlich pigmentierten Augenbrauen und einer wallenden schwarzen Mähne –, zückte Mr. Dauerlächler, der die ganze Zeit im Zuschauerraum gesessen hatte, ein elektronisches Gerät. Langsam zum Zeugenstand gehend, hielt Tom ein Smartphone in der Hand und konzentrierte sich auf etwas, das ihn per Kopfhörer erreichte. Als er am Zeugenstand angekommen war, schaltete er den Ton ab, nahm die Ohrstöpsel heraus und verstaute beides in seiner vorderen Hosentasche.
Die Gruppe tauschte achselzuckend Blicke aus.
Er setzte sich direkt hinter die Zeugin und beugte sich dabei über die Schulter der schlampig aufgemachten Frau. Die Zeugin schien seine Anwesenheit zu genießen, drehte sich zu ihm um und bedachte Mr. Sonnenbrille mit einem breiten, zahnreichen Lächeln. Ausnahmsweise lächelte Tom einmal nicht.
Die Verhandlung ging weiter, und Toms Aufgabe wurde deutlich.
Er arbeitete als Übersetzer.
Ihn jedoch lediglich einen Übersetzer zu nennen war eine Untertreibung.
Tom inszenierte die Zeugenaussage. Er war ein bühnenreifer Alleinunterhalter, seine Stimme hob und senkte sich und verpasste jedem Satz die genau dosierte Menge notwendigen Gefühls. Gäbe es einen Oscar für Übersetzer, hätte Sonnenbrillen-Tom ihn mit links gewonnen.
Während der Nachmittag verstrich, wurden die Erinnerungen der Zeugen immer vager und schemenhafter, wie bei Arturo Gutierrez, der gerade von einem erbarmungslosen Staatsanwalt in einem roten, perfekt sitzenden Anzug durch die Mangel gedreht wurde. Obwohl er sich daran erinnerte, dass es zu Schlägen gekommen war, konnte er nicht mehr sagen, wer diese ausgeteilt hatte. Vielleicht traf der Kläger den Angeklagten, aber vielleicht traf auch der Angeklagte den Kläger. Die Zeugen redeten zunehmend vorsichtiger, und der Einzige, der sich gut zu amüsieren schien, war Tom.
Als dann endlich die Anklage alle ihre Leute durchhatte und die Verteidigung an die Reihe kommen sollte, war die Zeit um. Nachdem die Jury belehrt worden war, mit niemandem über den Fall zu reden, verließ sie gesittet und geordnet den Gerichtssaal, wobei der Gerichtsdiener jedes einzelne Jurymitglied musterte. Rina erinnerte das Ganze an die Metapher, die man sich zu Rosch ha-Schana erzählte,
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