Deer Lake 02 - Engel der Schuld
daß das leiseste Geräusch sie wecken könnte. Er würde kein Geräusch machen. Wie ein Geist würde er sein, sich überall hin bewegen, überall sein, und keiner würde ihn sehen oder hören. Die Stille war in seinem Kopf, und er konnte sie so groß machen, wie er selbst war, und sie um sich bauschen wie eine riesige Blase.
Er wich von der Tür zurück, ging den Gang hinunter zum Bad, wo ein Fenster zum hinteren Garten führte. Er kletterte auf den Wäschekorb und teilte die Vorhänge. Der Schnee war Silber, die Wälder dahinter schwarze Spitze vor dem immer wieder verschwindenden Mond, der durch die kahlen Äste der wintertoten Bäume schien. Die Szene hatte etwas Mystisches, Magisches an sich, das ihn rief. Das Gefühl machte ihm ein bißchen Angst, zog ihn aber wie ein Paar unsichtbarer Hände. Er wollte da draußen sein, allein, wo keiner ihn beobachten würde, als erwarten sie, daß er gleich explodierte, und keiner Fragen stellte, die er nicht beantworten durfte.
Im Vorraum zog er sich seine Schneestiefel an, seinen neuen violetten Sweatsuit, den Natalie Bryant ihm gebracht hatte, und die neue Winterjacke, die Mom ihm gekauft hatte. Die Leute kauften ihm einen Haufen Geschenke, als wäre Weihnachten oder so was. Nur als seine Mom ihm die Sachen gegeben hatte, schien sie traurig und ängstlich statt glücklich.
Josh wußte, daß er der Grund für diese Gefühle war. Er wünschte, er könnte ihr gebrochenes Herz heilen. Er wünschte, er könnte die Welt wieder in Ordnung bringen, aber das konnte er nicht.
Was geschehn ist, ist geschehn, aber es ist noch nicht vorbei.
Er dachte nicht gern daran, aber es war in seinem Kopf, hineingetan von jemandem, gegen den er sich nicht zu stellen wagte. Der Nehmer.
Der Nehmer sagte, er dürfte nichts erzählen, sonst würden schlimme Dinge passieren, also redete er nicht, obwohl die schlimmen Dinge offenbar trotzdem passierten. Josh schloß sich in sich selbst ein, obwohl es dort einsam war. Es war der sicherste Ort.
Leise wie ein Mäuschen verließ er das Haus.
Der Anruf kam um 2 Uhr 02 und riß Ellen aus unruhigem Schlaf. Sie setzte sich kerzengerade im Bett auf, verstreute die Akten und Dokumente, bei deren Lektüre sie eingeschlafen war. Der dicke Ordner, der ihre Bibel für den Fall Wright war, klatschte auf den Boden. Sie starrte das Telefon an, versuchte, genauso wie Montag nacht, vernünftig zu überlegen. Der Anruf war wahrscheinlich beruflicher Art. Ein Cop, der einen Haftbefehl brauchte. In Park County gab es außer der Holloman-Entführung noch andere Fälle. Vielleicht ging es auch um den Holloman-Fall. Vielleicht war es Karen Wright, die anrief, um die Sünden ihres Mannes zu beichten.
Trotzdem brachte sie es nicht fertig, den Hörer abzunehmen. Harry hob seinen massigen Schädel von der Matratze und knurrte verärgert, weil man seinen Schlaf störte.
»Ellen North«, sagte sie. Schweigen lastete schwer auf dem anderen Ende der Leitung. »Hallo?«
Als die Stimme kam, war es ein flüsterleiser, ein androgyner, ein körperloser Geist, der ihr Kälteschauer wie Eiswasser über den Rücken jagte.
»Das erste, was wir tun: wir bringen alle Anwälte um.«
Die Leitung war tot, aber die Worte blieben und hallten und griffen mit knochigen Fingern nach ihrem Hals. Ellen zog die Decke hoch und saß zitternd, entsetzt, wartend da, während die Nacht um sie herum den Atem anhielt.
TAGEBUCHEINTRAG
Mittwoch, 26 . Januar 1994
Sie rennen im Kreis, jagen ihren Schw ä nzen nach . Wir spielen das Muschelspiel, mit blitzschnellem Verstand . Wo ist Dustin? Wo ist das B ö se ?
Wer ist b ö se ? Wer ist es nicht ?
14
»Denny Enberg ist tot.«
»W-was?« Ellen war schon auf dem Weg nach draußen gewesen. Ihr Mantel war halb zugeknöpft. Die Handschuhe fielen ihr aus der Hand.
». . . sieht aus wie Selbstmord«, sagte Mitch. ». . . In seinem Büro . . . irgendwann gestern nacht . . .«
Die Sätze drangen in Bruchstücken zu ihr durch, als wäre die Telefonverbindung gestört.
Das erste, was wir tun: wir bringen alle Anw ä lte um . . .
»Oh, mein Gott«, flüsterte sie, Übelkeit rollte wie ein Ball in ihrem Magen, rührte ihr mageres Frühstück von Tee und Toast durcheinander.
Obwohl sie den Terroranruf gemeldet und man ihr versichert hatte, daß der Wachhabende einen Streifenwagen an ihrem Haus vorbeischicken würde, hatte sie schlecht geschlafen. Böse Träume und Angst hatten sie aus den Tiefen der Bewußtlosigkeit hochgejagt und sie in einem
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