Defekt
Sprüche für sich behalten.
Die Tür des Konferenzraums öffnet sich, und Pete Marino
kommt herein. Er ist mit einem Aktenkoffer und einem Karton voller gefüllter
Donuts bewaffnet und trägt - wie immer - schwarze Jeans, schwarze Lederstiefel
und eine schwarze Lederweste mit Harley-Emblem auf dem Rücken. Nachdem er auf
seinem üblichen Stuhl neben dem von Scarpetta Platz genommen hat, ohne sie
eines Blickes zu würdigen, schiebt er die Donuts-Schachtel über den Tisch.
„Ich wünschte, wir könnten die Kleidung des Bruders
- also das, was er am fraglichen Tag anhatte - beschlagnahmen und auf
Schmauchspuren untersuchen“, sagt Joe und lehnt sich lässig zurück, ein Zeichen
dafür, dass er im Begriff ist, zu einem längeren Vortrag auszuholen. Wenn
Marino anwesend ist, predigt er noch mehr als sonst. „Wir sollten sie uns unter
dem Röntgenmikroskop, dem Faxitron und dem Rasterelektronenmikroskop
anschauen.“
Marino sieht Joe an, als würde er ihm am liebsten
eine runterhauen.
„Natürlich können auch auf andere Weise als durch
einen Schuss Spuren zurückbleiben: Rohrleitungen, Batterien, Motoröl, Lacke. So
wie bei meinem Laborpraktikum im letzten Monat.“ Joe greift nach einem Donut
mit Schokoglasur, das so zerdrückt ist, dass der Großteil der Schokolade am
Karton klebt. „Weiß jemand, was daraus geworden ist?“
„Muss ein tolles Praktikum gewesen sein“, meint
Marino. „Wie kommen Sie bloß immer auf diese Ideen?“
„Ich habe gefragt, ob jemand weiß, was aus der
Kleidung des Bruders geworden ist“, wiederholt Joe.
„Ich glaube, Sie haben zu viele Krimis gesehen, die
in der Gerichtsmedizin spielen“, erwidert Marino und wendet ihm sein breites
Gesicht zu. „Zu viele Harry-Potter-Detektive, die auf Ihrem tollen neuen
Plasmafernseher herumgeistern. Und jetzt halten Sie sich für eine Mischung aus
Möchtegern-Pathologe, Captain Kirk und Osterhase.“
„Übrigens war die gestrige Horror-Szene ein großer
Erfolg“, sagt Joe. „Ein Jammer, dass Sie es verpasst haben.“
„„Was ist denn jetzt mit den Klamotten, Pete?“,
erkundigt sich Vince bei Marino. „Wissen wir, was er anhatte, als er die Leiche
seines Bruders fand?“
„Angeblich gar nichts“, erwiderte Marino. „Er will
durch die Küchentür hereingekommen sein. Nachdem er die Einkäufe dort
abgestellt hatte, ist er sofort ins Bad gegangen, um zu pinkeln. Behauptet er
wenigstens. Anschließend hat er geduscht, weil er am Abend in sein Restaurant
musste. Dabei hat er zufällig durch die Tür geschaut und das Gewehr hinter dem
Sofa auf dem Teppich liegen gesehen. Er sagt, zu diesem Zeitpunkt sei er nackt
gewesen.“
„Für mich klingt das wie völliger Blödsinn“,
nuschelt Joe mit vollem Mund.
„Meiner Ansicht nach haben wir es hier mit einem
Einbruch zu tun, bei dem der Täter gestört wurde“, sagt Marino. „Oder mit einem
Menschen, der bei etwas anderem unterbrochen worden ist. Vielleicht hat sich
der wohlhabende Herr Doktor auch mit den falschen Leuten eingelassen. Hat
übrigens jemand meine Harley-Jacke gesehen? Schwarz mit einem Totenschädel mit
gekreuzten Knochen auf der einen und der amerikanischen Flagge auf der anderen
Schulter.“
„Wo haben Sie sie zuletzt angehabt?“
„Ich habe sie zuletzt im Hangar ausgezogen, als ich
mit Lucy weggeflogen bin. Als ich zurückkam, war die Jacke weg.“
„Mir ist sie nicht aufgefallen.“
„Mir auch nicht.“
„Mist, das Teil war teuer! Und die Aufnäher waren
handgestickt. Verdammt! Wenn mir jemand die Jacke geklaut hat...“
„Hier wird nicht gestohlen“, unterbricht ihn Joe.
„Wirklich? Und was ist mit Ideenklau?“ Marino blickt
ihn finster an. „Ach, apropos“, wendet er sich dann an Scarpetta. „Wenn wir
schon mal beim Thema Horror-Szenen sind ...“
„Wir sind nicht bei diesem Thema“, erwidert sie.
„Eigentlich wollte ich heute Morgen ein paar Dinge
dazu anmerken.“
„Ein andermal.“
„Ich habe mir ein paar gute ausgedacht. Die Akte
liegt auf deinem Schreibtisch“, sagt Marino zu ihr. „Dann hast du im Urlaub
wenigstens was Spannendes zu lesen. Vor allem deshalb, weil du vermutlich da
oben eingeschneit werden wirst und wir dich erst im Frühjahr wiedersehen.“
Scarpetta beherrscht sich, unterdrückt ihre
Gereiztheit und hofft, dass niemand sie ihr anmerkt. Marino stört mit voller
Absicht eine Dienstbesprechung und behandelt sie genau so wie vor fünfzehn
Jahren, als sie Chefpathologin in Virginia war - eine Frau in einer Welt,
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