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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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betrachtete ihn etwas genauer. Seine Augenbrauen waren schütter und hell, und in der Mitte zwischen ihnen hatte er einen kleinen hellroten Pickel. Er hatte dunkle Ränder unter den Augen und sein rechter Augenwinkel zuckte nervös. Das eine Ohrläppchen hing weiter herab als das andere, als habe jemand sich einmal im Bus daran fest gehalten, und der Bus hatte einen abrupten Schwenker gemacht. Offensichtlich hatte er Probleme damit, sich bis zur Nase zu rasieren, wovon eine verkrustete Schnittwunde und ein paar lange, helle Bartstoppeln zeugten.
    »Na, haben Sie Ihr Sherlock-Holmes-Spiel beendet?«, fragte er. »Und haben Sie etwas Interessantes herausgefunden?«
    Ich erwiderte: »Du benutzt eine Rasierklinge, aber dir zittert die Hand unter der Nase. Kastrationsangst: eine dominierende Mutter und Angst, auf der Welt ganz allein zu sein. Löst ihr nicht so alle Probleme?«
    Er lächelte säuerlich. »Nicht alle. Wie löst du sie, mit der rechten Faust?«
    »Es kommt drauf an, was für Probleme du meinst. Kennst du einen Typ, den sie Joker nennen?«
    Er nickte langsam, und um seinen Mund trat ein Ausdruck von Resignation. »Also geht es … um Johan.«
    Er sagte nicht »wieder einmal«, aber er hätte es ruhig tun können. Die Worte hingen sowieso in der Luft.
    »Früher schon Probleme mit ihm gehabt?«
    Er antwortete nicht gleich. Er ließ den Zeigefinger an der Schreibtischkante entlanggleiten, langsam und ruckhaft. Dann öffnete er eine Schublade, schaute hinein und schloss sie wieder. Schließlich richtete er den Blick auf mich, sah mir forschend ins Gesicht und sagte:
    »Ich glaube, ich bin einer der ganz wenigen Menschen, die eine Art Kontakt zu Johan etabliert haben. Ich glaube, dass er mich … auf eine Weise respektiert. Auf eine Weise. Ich … am Anfang, als ich hier anfing, musste er mich natürlich testen. Der vorige Jugendbetreuer wurde direkt in die Nervenheilanstalt gebracht. Inzwischen ist er wieder draußen, und wie ich höre, geht es ihm ziemlich gut, aber du brauchst ihm nur den Namen Joker ins Ohr zu flüstern, dann fängt er an zu weinen wie ein Baby. Als ich kam, war ich also vorgewarnt. Ich sehe vielleicht nicht so beinhart aus – für einen Detektiv, meine ich.«
    Er machte eine Kunstpause, um zu sehen, ob er bei mir angekommen war, aber ich ließ die Schnur schweigend vorübergleiten. So leicht biss ich nicht an.
    »Aber ich kann ziemlich hart sein«, fuhr er fort. »Das hat weniger mit Muskelkraft und dergleichen zu tun, sondern mehr mit einer Haltung. Bring die Kids dazu zu begreifen, dass du sie respektierst und sie verstehst und willst, dass es ihnen okay geht und sie so weit wie möglich selbst darüber entscheiden sollen, wie sie es haben wollen, dann bekommst du vielleicht ein bisschen Respekt zurück. Aktiviere sie, dirigiere sie – wohin du willst –, behandle sie mit der Freundlichkeit, die sie zu Hause selten bekommen (und nie akzeptieren würden), werde ihr Kumpel, ohne überheblich zu werden – aber zieh eine Grenze. Die meisten brauchen eine Grenze, und solche wie Johan brauchen sie ganz entschieden. Wenn er hierher kommt und mit seinen Messern herumfuchtelt, nehme ich sie ihm ganz einfach weg. Dann kann er sie sich später wieder holen, ein oder zwei Tage später. Ich erinnere mich noch an das erste Mal. Wir hatten einen Jugendtreff hier unten: Cola, ein paar von den Mädchen hatten Brötchen gebacken, Tanz, jemand sang ein paar Lieder, ein Junge las ein paar Gedichte vor, die er geschrieben hatte – und dann kam Joker. Er hatte getrunken und einen von den Jungen konnte er nicht ausstehen. Er zückte das Messer. Geschrei und Spektakel. Ich drehte die Lautsprecheranlage ab und auf einmal war es totenstill. Ich ging zu Johan, der den anderen Jungen an die Wand gedrückt hatte. Ich legte die Hand auf seine Schulter und drehte ihn herum – drehte ihn nur herum. Ich sah ihm in die Augen und sagte: Gib mir das Messer. Er stand da und blickte mich trotzig an, und ich sagte: Ich brauche es für die Brötchen. Oder willst du keine Marmelade drauf? – Ein paar fingen an zu lachen und ich sah, dass er unruhig wurde. Sie lachten selbstverständlich nicht über ihn, das wagten sie nicht, und das wusste er. Dann fing er auch an zu lachen. Und so bekam ich das Messer. Ich habe an dem Abend zweihundert Brötchen mit einem Springmesser aufgeschnitten.«
    Er ließ die eine Hand tastend über den Schädel gleiten, als suche er nach neuen Sprossen. »Am Tag danach«, fuhr er fort,

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