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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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geboren wurden, irgendwo tief drinnen, im Blut oder im Herzen.
    Ich beugte mich hinunter und umarmte ihn, drückte ihn an mich, spürte den zarten Jungenkörper, den schmalen Rücken, das Rückgrat, die Schulterblätter, den Nacken.
    Dann ging ich schnell zum Auto, ohne mich umzusehen, und fuhr los. Es lohnt sich nie, sich umzusehen. Das endet immer damit, dass man Menschen schon zu vermissen beginnt, bevor man sie noch richtig verlassen hat.
    Als ich aus Øistese hinausfuhr, dachte ich an die letzte Botschaft, die Reidar Baugnes mir mitgegeben hatte, und an das, was Jonas Andresen mir zwei Tage zuvor gesagt hatte. Reidar Baugnes hatte von »Gelüsten« gesprochen, Jonas Andresen hingegen von »Liebe«. Und ich fragte mich, ob sie überhaupt von derselben Sache gesprochen hatten.
    Und – ich hatte schon begonnen, ihn zu vermissen.

29
    Hinter Kvamskogen fuhr ich von der Hauptstraße auf einen Schotterweg, der ein Seitental hinunterführte, das wie ein U begann, aber wie ein V endete. Der Weg schlängelte sich bergauf, und es war nur dem fehlenden Schnee in diesem Winter zu verdanken, dass er überhaupt so früh im Jahr befahrbar war. Trotzdem kam ich nicht besonders weit.
    Als der Weg zu glatt wurde, parkte ich an der Seite und stieg aus. Ich ging schnell bergauf, sog die scharfe Gebirgsluft tief in die Lungen.
    Es war ein wildes und schönes Tal, und der Weg würde mich an ein paar verlassenen, verfallenen Höfen vorbeiführen, hinauf zu der nackten Hochebene, wenn meine Zeit und meine Kräfte ausreichten. Das Tal würde später im Jahr grün und üppig und voller immer niedrigerer Birken sein. Jetzt war es gelbbraun und karg und mit weißen Schneeflecken bedeckt.
    Ganz unten in der Talsohle schlängelte sich ein wilder kleiner Fluss dahin, und später in der Saison würden die Forellen Schlange stehen, um zu den großen, tiefen Fjellseen zu gelangen, aus denen der Fluss kam. Ich hatte einige Abendstunden – nicht sehr viele vielleicht, aber es waren gute Stunden gewesen – dort unten am Fluss verbracht. Während die Sonne weiter und weiter den Hang hinaufkroch und die Luft jede Sekunde klarer und kälter wurde, hatte ich auf den seligen Moment gewartet: das wilde Springen – die Belohnung für das Warten.
    Da mein Vater die freie Natur hasste und den größten Teil seiner Freizeit in Museen verbrachte und über Büchern zur nordischen Mythologie saß, war ich schon erwachsen, als ich meine erste Forelle an Land zog. Später hatte ich die vereinzelten Pausen vom Stadtleben zu schätzen gelernt. Ich war zu sehr Stadtkind, um den Gesang des Verkehrs, die kunstvollen Rauchschwaden über den Dächern und die Abgase auf der Haut lange hinter mir zu lassen – aber ab und zu tat es gut, ein wenig rauszukommen, den Stadtstaub abzuschütteln und ein paar Stunden in sauberer Luft, an einem klaren Bach zu verbringen, in Erwartung einer willigen Forelle. Und dafür war dieses Tal sehr gut geeignet, eine Stunde Autofahrt von der Stadt entfernt.
    Manchmal war ich erst spät in der Nacht zurückgefahren. Ich hatte unten am Fluss ein Feuer gemacht und in einer rußgeschwärzten Kanne Kaffee gekocht, den ich dann aus einem alten Zinnbecher trank. So hatte ich in der Dunkelheit gesessen, im lebendigen Lichtschein des Feuers und beim Knistern der trockenen Äste. Ich hatte dagesessen und auf andere Geräusche gelauscht, aber die Vögel hatten sich zur Ruhe begeben. Ein einsamer Igel raschelte in den Büschen, und ganz selten quakte ein Frosch. Sonst war alles still wie die Sterne über mir und das Fjell um mich herum.
    Jetzt hatte ich keine Anglerausrüstung dabei, und ich war nur hergekommen, um für ein paar Stunden alles hinter mir zu lassen, um Abstand zu gewinnen, um meine Gedanken und Eindrücke in die richtigen Schubladen zu sortieren.
    Die Luft war kalt und ich war nicht richtig angezogen. Ich hatte einfache Schuhe an und der Schnee setzte meiner Wanderung bald eine Grenze. Also musste ich umkehren und wieder zum Auto zurückgehen.
    Das Tal war nicht das Richtige für solche Gedanken, es war zu eng. Man konnte Blick, Kopf und Herz nicht frei schweifen lassen. Man kam nicht frei, sondern war in sich selbst gefangen, im Chaos der Gedanken, im Gewimmel der Eindrücke.
    Ich brauchte stärkere Reinigungsprozesse.
     
    Wieder in der Stadt, fuhr ich direkt nach Hause, duschte und warf mich in Schale. Dann ging ich in das feinste Hotel der Stadt. In diesem Hotel ist es so, dass man ohne Schlips in der Bar nicht bedient wird. Man

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