Dein Blut auf meinen Lippen
sah nur lauter rubinrote Augen in leichenblassen Gesichtern.
Romeo nahm all seinen Mut zusammen und ging auf eine zierliche goldbonde Vampirfrau in einer schwarzen Robe zu. Etwas verloren saß sie auf einem purpurfarbenen Sofa, den Blick auf die Menge gerichtet. Sie lächelte, als Romeo sich vor ihr verbeugte. Diese ehrerbietige Geste war vielleicht etwas übertrieben, aber er musste Kompromisse machen, wenn er erfahren wollte, wer die Frau war, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte.
"Bitte verzeihen Sie, wenn ich störe, meine Dame. Aber haben Sie vielleicht gesehen, wie ich mich eben gerade mit einem jungen Mädchen unterhalten habe, da drüben?" Er zeigte in die Richtung, die er meinte.
"Ja, habe ich", erwiderte die Frau.
Romeo schluckte. "Kennen Sie vielleicht ihren Namen?"
Die Frau wölbte die Augenbrauen, ohne dass sich auch nur das kleinste Fältchen auf ihrer Stirn bildete. Romeo wusste, dass es ein Zeichen ihrer Unsterblichkeit war.
"Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, was Sie ausgerechnet von ihr wollten", sagte die Frau. "Doch jetzt wird es mir klar: Sie wissen nicht, wer sie ist."
Der abfällige Ton trieb Romeo in die Defensive. "Aber ganz im Gegenteil. Ich weiß alles über sie, was wichtig ist. Außer ihrem Namen. Bitte spannen Sie mich nicht länger auf die Folter!"
"Und wenn doch, was wollen Sie dann tun?" Die Frau beugte sich vor und sah Romeo verächtlich an. "Holen Sie dann einen Pflock aus dem Gewand und treiben ihn mir durchs Herz, so wie Ihr Vater es mit meinem Vater gemacht hat?"
Offenbar war Romeos Verkleidung nicht so gut, wie er gedacht hatte. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sich im Namen der Montagues bei der Frau zu entschuldigen. Doch dann dachte er daran, dass die Capulets Tausende unschuldiger Menschen ausgesaugt und getötet hatten, und er fand nicht mehr, dass er für irgendetwas um Verzeihung bitten sollte.
"Nein. Ich werde mich einfach nur zurückziehen." Mit einer leichten Verbeugung entfernte er sich.
Doch die Frau hatte ihre größte Trumpfkarte noch nicht ausgespielt. Mit überheblicher Miene erklärte sie laut: "Ihr Name ist Julia, und sie ist Graf Capulets einzige Tochter."
Romeo stolperte über die eigenen Füße und konnte gerade noch verhindern, dass er der Länge nach hinschlug. Die Frau seiner Träume war also nicht nur eine Capulet, sondern die Tochter des erbittertsten Feindes seiner Familie.
"Julia ...", wiederholte er mit brüchiger Stimme und sah die Vampirfrau völlig entgeistert an.
"In drei Tagen wird sie endgültig eine von uns sein." Die Frau schien sich an Romeos Bestürzung zu weiden. "Weiß sie, wer Sie sind?"
Romeo hatte das Gefühl, als drückte ihm eine eiserne Faust die Luft ab, und er bekam keinen Ton heraus.
"Ich garantiere Ihnen, dass Sie für sie gestorben sind, wenn sie es herausfindet", keifte die Frau. "Tot wie ihre Verwandten, die von Ihrer Familie ermordet wurden."
Der rachsüchtige Blick der Vampirfrau rief Romeo den Pflock in Erinnerung, den er bei sich trug, und er fragte sich, ob er ihn heute Nacht vielleicht doch noch benutzen musste - aus Notwehr. Von sich aus wollte er ihn aber nicht einsetzen. Also zog er sich zurück und ging durch die Große Halle in einen Säulengang, der zu weiteren Korridoren und schließlich in einen Hof führte, an den sich ein Obstgarten anschloss. Dort hoffte er, mit seinen aufgewühlten Gedanken und Gefühlen ein wenig allein sein und sich sammeln zu können.
Er wollte sich gerade auf einer steinernen Bank niederlassen, als zwei vertraute Stimmen an sein Ohr drangen. Er schaute auf und sah, dass eine Mauer durch den Obstgarten lief. Dahinter mussten die beiden stecken.
"Romeo! Mein Cousin Romeo!"
Das war Benvolio, und er sprach nicht gerade leise. Niedergeschlagen schüttelte Romeo den Kopf und hoffte, von den beiden nicht entdeckt zu werden. Das Letzte, was er jetzt brauchte, war noch mehr Hohn und Spott.
"Nicht so laut, Mann! Wahrscheinlich liegt er hier irgendwo mit dem Halbblut im Bett und lässt sich das zarte Öhrchen kauen." Mercutio kicherte.
"Meinst du, das reicht ihr? Bestimmt geht sie ihm gleich an die Arterie", vermutete Benvolio.
"Wahrscheinlich hast du recht", stimmte Mercutio ihm zu.
"Wir können ihn ja suchen gehen. Irgendwo da oben müssen die Schlafkammern liegen", sagte Benvolio.
"Kein Bedarf", erwiderte Mercutio. "Mir reicht’s für heute. Ich habe genug von diesem Horrorhaus der Verdammten. Romeo findet auch allein nach
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