Dein Blut auf meinen Lippen
Was würde er wohl von ihr halten, wenn er die Wahrheit erfuhr? Bestimmt würde er auf der Stelle das Weite suchen. Ein Mensch konnte gar nicht anders reagieren.
"Jedenfalls bin ich kein Fürst", fuhr er fort. "Das dürfte wohl gegen mich sprechen."
"Nicht nur das. Sie riechen auch noch nach Knoblauch." Julia hatte es kaum ausgesprochen, als sie es auch schon bereute. Der junge Mann musste sie für entsetzlich unhöflich halten.
Es schien ihm jedoch nicht das Geringste auszumachen. "Das ist der Nachteil, wenn man welchen in der Tasche hat."
Julia konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so lebendig gefühlt hatte. Es musste Monate her sein. Wenn überhaupt je.
"Um die Wahrheit zu sagen, arbeite ich für meinen Vater", erklärte nun der junge Mann. "Allerdings nur vorübergehend."
"Warum? Gefällt Ihnen die Arbeit nicht?"
Der junge Mann senkte den Blick und kratzte sich verlegen am Hals. "Um ehrlich zu sein: nein."
Julia merkte, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte, aber aus irgendeinem Grund hatte sie keine Hemmungen, an dieser Stelle weiterzubohren. "Verstehen Sie sich mit Ihrem Vater nicht gut?"
"Könnte man sagen. Seit Inkrafttreten des Friedensvertrags sind meine Eltern allerdings außer Landes. Sie gönnen sich einen wohlverdienten Urlaub in Serbien."
Julia legte den Kopf schräg. "Wie beneidenswert!"
"Haben Sie auch einen Urlaub nötig?", fragte der junge Mann.
"Das nicht, aber ich beneide Sie darum, Ihre Eltern für eine Weile los zu sein."
Ihr Gegenüber grinste breit. "Ich muss zugeben, dass ich die Freiheit sehr genieße."
"Keine Verhaltensmaßregeln", sagte Julia mit blitzenden Augen.
Der junge Mann nickte. "Keine Kritik oder völlig überzogene Erwartungen."
"Keine Pläne, die sie für einen schmieden, ohne zu fragen, was man selber will. Keine Zurechtweisungen, wenn man etwas Unbedachtes sagt. Keine ... "Julia verstummte, als sie merkte, wie verbittert sie klang. Was würde ihre Amme wohl sagen, wenn sie wüsste, dass sie alles falsch gemacht hatte, was sie beim Flirten beachten sollte?
Glücklicherweise schien ihr Gejammer den jungen Mann jedoch nicht zu stören. Er grinste und nickte ihr aufmunternd zu. "Ihre Eltern scheinen nicht zu wissen, wie glücklich sie sich schätzen können, eine Tochter wie Sie zu haben."
Julia errötete und wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.
Eine Weile standen sie ganz still da und schauten einander tief in die Augen. Julia merkte, dass ihr ganzer Körper warm und weich wurde, und sie hatte das merkwürdige Gefühl, diesen jungen Mann schon ihr ganzes Leben lang zu kennen.
"Und Ihre Zukunft?", erkundigte er sich.
Die Frage riss Julia aus ihren Gedanken.
"Werden Sie eines Tages das Familienunternehmen weiterführen?", fragte er weiter.
"Wenn es nach meinen Eltern geht, ja", antwortete sie.
"Aber Sie wollen nicht? Ich habe es doch gewusst! Schon von der anderen Seite des Saals habe ich Ihnen angesehen, dass Sie eine Rebellin sind."
Wieder traf das jungenhafte Grinsen Julia mitten ins Herz.
"Tatsächlich?", sagte sie ein wenig spöttisch. "Was haben Sie mir denn noch alles angesehen?"
"Dass Sie viel Leidenschaft besitzen."
Der junge Mann sah sie so ernst und intensiv an, dass es Julia unter die Haut ging.
"Und dass Sie sich für die Dinge einsetzen, von denen Sie überzeugt sind."
"Sonst noch was?", murmelte Julia.
Der junge Mann atmete tief ein, ehe er erklärte: "Dass Sie einen Verbündeten brauchen, der Ihnen immer zur Seite steht. Egal, was kommt."
Julia verschlug es die Sprache, dass dieser gutaussehende Fremde bis in ihr Innerstes zu blicken vermochte.
"Aber wahrscheinlich sollte ich so etwas nicht sagen, solange Ihr Begleiter in der Nähe ist und jederzeit zu uns kommen kann."
Julias Herz klopfte immer schneller. "Ehrlich gesagt, habe ich gar keinen Begleiter."
"Oh, Sie erstaunen mich! Aber vor allem bin ich erleichtert." Die Augen des jungen Mannes strahlten plötzlich, als seien die Sterne am Himmel aufgegangen. "Denn selbstverständlich hätte ich mit ihm um Ihre Gunst gekämpft."
Julia wandte rasch den Blick ab. Andere Frauen hätten sich von diesen Worten bestimmt geschmeichelt gefühlt, aber ihr gefiel der Gedanke nicht, dass es ihretwegen Streit geben könnte. Davon gab es in ihrer Familie schon viel zu viel.
Der junge Mann schien zu merken, dass sie plötzlich ganz nachdenklich geworden war, denn er nahm ihre Hand und erklärte: "Damit wollte ich bloß sagen, dass ich versuchen möchte, Ihr
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