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Dein Blut auf meinen Lippen

Dein Blut auf meinen Lippen

Titel: Dein Blut auf meinen Lippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Gabe
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Herz zu gewinnen."
    Julia spürte, wie es unter der Haut ihrer Handinnenfläche prickelte. Seufzend senkte sie den Blick auf ihre ineinander verschränkten Finger. Als sie langsam wieder aufschaute, blieb ihr Blick am oberen Ende eines Holzpflocks hängen, das dem jungen Mann aus einer Innentasche des feinen Gewandes ragte.
    "Was ist das?" Julia ließ seine Hand los und zeigte auf den Pflock.
    Augenblicklich trübte sich sein Blick. "Das? Ach … nur ein Familienerbstück."
    "Wäre ein Taschentuch mit aufgesticktem Familienwappen für einen Ball nicht passender?", spottete Julia.
    "Das mag sein. Aber in meiner Familie tragen immer alle so ein Ding. Sie finden das bestimmt merkwürdig, aber wenn Sie meine Familie erst einmal kennenlernen, werden Sie es verstehen."
    Wieder griff der junge Mann nach Julias Hand. Sie brachte es nicht über sich, ihre Hand zurückzuziehen, obwohl sie die Stimme ihrer Amme im Ohr hatte, die sie beschwor, Haltung zu bewahren. Sie fühlte sich von diesem jungen Fremden geradezu magisch angezogen und konnte nichts dagegen tun.
    "Meine Familie wird von Ihnen genauso begeistert sein wie ich." Der junge Mann drückte seine Lippen auf Julias Fingerspitzen.
    "Pardon, mein Fräulein", sagte jemand hinter Julia.
    Es kostete Julia eine fast übermenschliche Anstrengung, den Blick von dem ungewöhnlichen Mann abzuwenden. Dann schaute sie sich um und blickte in das Gesicht ihrer Amme, die sie missbilligend ansah.
    "Siehst du nicht, dass ich mich gerade unterhalte?", sagte Julia ungehalten.
    "Doch, und es tut mir sehr leid, wenn ich störe." Die Amme nahm Julias Arm und zog daran, bis sich die Hand des Mädchens von der des jungen Mannes löste. "Aber deine Mutter verlangt nach dir, und zwar sofort."
    "Es hat gewiss noch einige Minuten Zeit", entgegnete Julia und wünschte, sie besäße die Zauberkräfte ihrer Mutter, um unliebsame Dinge einfach verschwinden lassen zu können.
    "Leider nicht." Die Amme trat zwischen Julia und den Mann und sagte zu ihm: "Wir wünschen Ihnen noch einen schönen Abend, mein Herr. Leben Sie wohl."
    "Leben Sie wohl, meine Damen." Der junge Mann verbeugte sich tief.
    Die Amme stieß und zerrte so lange an Julia herum, bis sich das Mädchen in Bewegung setzte. Dann zog sie ihren Schützling an der Hand durch das Gewimmel in der Großen Halle.
    Julia war so wütend, dass es sie ganz benommen machte. Als sie den Obstgarten des Schlosses erreichten, in dem sich außer ein paar Fruchtfliegen niemand aufhielt, riss sie sich von der Amme los und stellte sie zur Rede.
    "Wie kannst du es wagen, mich so zu blamieren?", schrie sie mit schamroten Wangen.
    "Du solltest mir dankbar sein", erwiderte die Amme. "Wäre ich nicht dazwischengegangen, hättest du dich noch mehr blamiert."
    "Was soll das heißen? Der junge Mann hat mich äußerst zuvorkommend behandelt."
    "Herrgott nochmal, Julia! Weißt du denn nicht, wer das war? Romeo Montague!"
    Einen Moment lang verschlug es Julia die Sprache. Dann sagte sie kaum hörbar: "Du musst dich irren." Sie vernahm ihre eigene Stimme wie aus weiter Ferne, und plötzlich kam ihr alles ganz unwirklich vor.
    "Nein, mein Kind, er ist es. Ich schwör’s!"
    Julia brauchte der Amme nicht erst in die Augen zu sehen, um zu wissen, dass sie die Wahrheit sagte. Sie schlug die zitternden Hände vors Gesicht und hatte das Gefühl, ihr würde der Boden unter den Füßen weggezogen.
    Es war schon völlig undenkbar, dass sich ein Montague auch nur mit einem Umgedrehten, einem sogenannten Halbblut, einlassen würde, und noch viel weniger mit einem reinblütigen Vampir aus dem Clan der Capulets. Plötzlich erschien auch das "Familienerbstück" in einem ganz neuen Licht, und Julia musste an ihre zahllosen Verwandten denken, die mit einem Werkzeug wie diesem getötet worden waren. Das ganze Ausmaß dessen, was sich ihr gerade offenbart hatte, war schier unerträglich.
    "Bitte, Amme, lass mich allein", murmelte Julia. Dann rannte sie davon und ließ ihren Tränen freien Lauf.

 

    Wie benommen stand Romeo da, als das junge Mädchen mit der Amme so plötzlich verschwunden war.
    Nach der Verbeugung hatte er sich noch nicht einmal wieder ganz aufgerichtet. Zu gern hätte er gewusst, warum die Amme diese unerwartete Begegnung so abrupt beendet hatte. Aber eins wusste er ganz sicher: Wenn er das Mädchen wiedersehen wollte, musste er herausfinden, wer sie war. Er blickte sich im Ballsaal unter all den fremden Leuten um und hielt nach Benvolio und Mercutio Ausschau, doch er

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