Dein Blut auf meinen Lippen
blieb. Rasch sprang Romeo hinter eine Hecke und kauerte sich auf den Boden, um nicht getroffen zu werden, falls ein weiterer Pfeil abgeschossen würde. Doch dann hörte er ein vertrautes Lachen von der anderen Seite der Hecke, und seine Panik schlug in Verärgerung um.
Als er wieder hochkam, stand er Mercutio und Benvolio gegenüber. Sein Freund klatschte vor Vergnügen in die Hände, während sein Cousin eine Armbrust in die Luft reckte und laut ausrief: "Willkommen daheim, Romeo!"
Der Angesprochene zog eine Grimasse. "Kannst du einen nicht so begrüßen, wie es jeder andere normale Mensch macht?"
"Das würde doch überhaupt keinen Spaß machen", erwiderte Benvolio und boxte Romeo unsanft gegen die Schulter.
"Apropos Spaß", sagte Mercutio. "Was ist nun eigentlich mit dem Halbblut?"
Romeo klopfte sich die Hose aus und ging weiter aufs Haus zu, ohne auf die Frage zu reagieren. Die beiden anderen folgten ihm und machten allerlei spöttische Bemerkungen, die er ebenfalls ignorierte. Aber wie angespannt er war, verrieten seine Hände, die er immer wieder zu Fäusten ballte.
Benvolio, der dicht hinter Romeo herschritt, beugte sich vor und sprach ihm direkt ins Ohr: "Erzähl uns doch endlich, wie es mit Rosalinde war! War es so schaurig schön, wie wir es uns vorstellen? Wir wollen alles ganz genau wissen!"
Romeo versuchte sich zu überzeugen, dass ihm dieses Gerede nichts ausmachte. Er wusste, dass die beiden ihn lediglich aus der Reserve locken wollten, weil sie neugierig waren. Sie konnten ja nicht ahnen, was tatsächlich passiert war. Trotzdem traf ihn alles, was sie sagten, wie eine Ohrfeige.
"Wie bitte?", fragte Mercutio, als hätte Romeo etwas geantwortet. "Ach, du hast noch gar nichts gesagt? Dann wird es aber Zeit!"
Benvolio und er lachten.
"Wahrscheinlich will er uns nichts erzählen, weil es ein totaler Reinfall war", spottete Benvolio und heuchelte Mitleid. "Armer Romeo!"
"Du meinst, sie war kalt wie eine Leiche?", rief Mercutio und stieß Romeo mit der Hüfte an.
Benvolio packte seinen Cousin am Ellenbogen. "Oder ist sie wie eine wilde Bestie über dich hergefallen?"
Ohne Vorwarnung wirbelte Romeo herum und versetzte Benvolio einen gezielten Hieb gegen das Kinn, der ihn zu Boden schickte. Mercutio blieb der Mund offen stehen, doch viel Zeit, sich zu wundern, blieb ihm nicht, denn Romeo rammte ihm ein Knie in die Magengrube. Sein Freund schrie auf und fiel vornüber aufs Gesicht. Romeo trat einen Schritt zurück und blickte auf die niedergestreckten Gefährten. Dabei rieb er sich die Schlaghand, die langsam anschwoll.
"Verzeiht, meine Freunde! Ich weiß gar nicht, was über mich gekommen ist", sagte er ironisch.
Mercutio hustete und rollte sich auf den Rücken. "Schon gut, Romeo. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen."
"Wir haben vielleicht ein bisschen übertrieben", fügte Benvolio hinzu und rieb sich das Kinn.
"Vielleicht? Ein bisschen?", grollte Romeo.
"Na ja ... Das mit dem Pfeil hätten wir uns sparen können." Mercutio rappelte sich mühsam auf. Als er endlich wieder stand, grinste er Romeo reumütig an.
Romeo wollte die beiden noch eine Weile schmoren lassen, aber er konnte ihnen nie länger als ein paar Minuten böse sein. Er wusste es zu schätzen, dass sie jederzeit bereit waren, ihn zu beschützen, so wie sie es am gestrigen Abend bei der Auseinandersetzung mit Tybalt getan hatten. Das hielt er ihnen auch dann zugute, wenn sie ihn, so wie jetzt, verärgert hatten.
"Ich glaube, wir sind quitt", sagte Mercutio. "Geben wir uns darauf die Hand!"
Romeo nahm Mercutios ausgestreckte Hand und lächelte versöhnlich. Doch unvermittelt packte sein Freund fest zu und drehte Romeo das Handgelenk um, bis der vor Schmerz aufschrie.
"Du dreckiger, hinterhältiger Bastard!", schrie Romeo.
"Selbst schuld, wenn du so leichtgläubig bist", entgegnete Mercutio und ließ Romeos Hand los.
"Ruhe! Da kommt jemand", sagte Benvolio, stand schnell auf und klopfte sich die Kleider aus.
Romeo rieb sich das Handgelenk und schaute in die Richtung, in die Benvolio kurz zeigte. Eine Frau kam den Weg herauf, und obwohl Romeo sie am Vorabend nur kurz gesehen hatte, erkannte er sie wieder: Es war Julias Amme. Sie hatte sich einen dicken gelben Wollumhang über die Schultern gelegt, und eine weiße Haube bedeckte ihr hellbraunes Haar.
"Wer ist das?", fragte Mercutio.
"Das geht dich nichts an", erwiderte Romeo.
"Jetzt machst du mich aber neugierig", sagte Benvolio. "Was meinst du, Mercutio, soll ich
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