Dein Blut auf meinen Lippen
Amme meinte. Von einem Verwandlungsritual für Vampire hatte er noch nie etwas gehört. "Wovon reden Sie, gute Frau?"
Die Amme presste erschrocken die Hände auf die Brust, schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück. "Ich muss gehen. Ich werde Julia alles ausrichten."
"Moment! Was hat es mit diesem Verwandlungsritual auf sich? Warum sollte ich mir darüber Sorgen machen?" Es war offensichtlich, dass die Amme ihm etwas verheimlichen wollte.
"Ach, nicht so wichtig ... Ich hätte besser den Mund gehalten." Damit drehte die Amme sich um und eilte davon.
Einen Moment lang stand Romeo ganz verwirrt da. Dann lief er ihr nach. Die Amme war viel zu korpulent, um schnell zu laufen, und so hatte er sie bald überholt. Er blieb so dicht vor ihr stehen, dass sie beinahe stolperte.
"Wenn es etwas gibt, das ich über Julia wissen sollte, dann sagen Sie es mir bitte", flehte er sie an.
Die Augenwinkel der Amme füllten sich mit Tränen, dann rollten sie ihr über die Wangen.
"Sie gehört zu ihrer Familie", erwiderte sie mit erstickter Stimme, stieß Romeo zur Seite und ging schnell weiter.
Der Rest ihrer Familie schlief, als Julia ungeduldig im Obstgarten auf und ab wanderte und auf die Rückkehr der Amme aus der kleinen Stadt wartete. Schon seit ein winziger Regenpfeifer vor ihrem Fenster gleich nach Tagesanbruch sein Lied gesungen hatte, betete sie um eine Nachricht von Romeo. Zum x-ten Mal schaute sie auf die Sonnenuhr, die in einer Lichtung zwischen den hohen Bäumen lag. Warum brauchte die Amme nur so lange? Sie hätte längst zurück sein müssen.
Julia presste die Arme an Bauch und Hüften, als müsste sie ihren Leib Zusammenhalten, weil sie sonst platzen würde. Dann kehrte sie der Sonnenuhr den Rücken zu und ging zu einem kleinen Brunnen. Er stand am Fuße einer Marmorstatue von Vlad, dem Pfähler. Sie raffte ihren blassrosa Rock und kniete am Brunnen nieder, beugte sich vor und betrachtete ihr Spiegelbild auf der Wasseroberfläche.
Vor Schreck stöhnte sie laut auf: Ihre Augen waren schon nicht mehr blau, sondern nahmen das dunkle Rot einer reifen Kirsche an. Julia war so entsetzt, dass sich ihr Magen zusammenkrampfte, und sie schlug sich die Hände vor den Mund, weil sie würgen musste. Dabei fiel ihr Blick auf ihre Fingernägel, und ihr wurde noch übler: Sie sah, dass die Nägel lang und dick wurden wie die spitzen Krallen ihrer Mutter und ihres Vaters.
Sie ließ den Kopf hängen und weinte. Romeo hatte zwar gesagt, dass es ihm nichts ausmachte, wenn sie sich in einen Vampir verwandelte. Aber sie fürchtete, er würde sie verlassen und nie wieder zu ihr zurückkehren, wenn er sie so sähe. Nach allem, was ihre Familie den Montagues angetan hatte, konnte sie es ihm nicht einmal verdenken. Doch die Vorstellung, von ihrer großen Liebe verstoßen zu werden, war so unerträglich, dass sie lieber schnell sterben wollte, als ewig zu leben.
Das Knarren der Gartenpforte riss sie aus ihren trüben Gedanken.
"Wer da?", fragte sie mit lauter Stimme und sah dann, wie sich ihre Amme einen Weg durch eine Anpflanzung junger Pflaumenbäume bahnte. Julia sprang auf und lief schnell auf sie zu.
"Wie gut, dass du endlich zurück bist!", rief sie, noch bevor sie ihre Amme erreicht hatte, und begrüßte sie mit einer stürmischen Umarmung.
"Psst! Du willst doch nicht die Untoten wecken." Die Amme küsste Julia auf die Stirn und löste sich aus der Umarmung.
"Was sagt mein geliebter Romeo?", verlangte Julia mit klopfendem Herzen zu wissen.
Die Amme kämpfte mit den Tränen, als sie Julia in die verfärbten Augen blickte, und murmelte: "Das geht alles viel zu schnell!"
"Deswegen musst du Romeo und mir ja helfen, so bald wie möglich zusammenzukommen." Julia griff nach den Händen der Amme und passte auf, dass sie sie nicht verletzte oder womöglich sogar blutig kratzte. Sie konnte ja nicht wissen, ob ihre Verwandlung vielleicht schon so weit fortgeschritten war, dass sie dem Anblick und Geruch von Blut nicht mehr widerstehen konnte.
Die Amme drückte ihr liebevoll die Hände. "Das hält deine Verwandlung aber trotzdem nicht auf, meine Liebe."
"Darum geht es ja gerade", entgegnete Julia ungeduldig. "Hat er gesagt, dass er mich als Vampir genauso lieben wird wie jetzt als Mensch? Wenn er seine Meinung geändert hat, kannst du gleich anfangen, mein Grab zu schaufeln."
Die Amme seufzte schwer. "Seine Liebe und Treue wächst mit jedem Atemzug. Er hat mir versichert, dass ihn nichts und niemand von dir
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