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Dein Blut auf meinen Lippen

Dein Blut auf meinen Lippen

Titel: Dein Blut auf meinen Lippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Gabe
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wieder gesagt, dass er sein Temperament zügeln soll", murmelte Julia. "Aber auf die Stimme der Vernunft wollte er ja nie hören."
    "Ja, er war ein eigensinniger junger Mann", pflichtete die Amme ihr bei. "Und schrecklich stolz ... eine explosive Mischung..."
    Bilder aus der Vergangenheit zogen an Julia vorüber - wie Tybalt und sie im Teich des Schlossparks geschwommen oder nachts in die Küche geschlichen waren, um Honigkuchen oder Käse zu stibitzen, aber auch der erste Überfall der Montagues, den sie als kleines Mädchen miterlebt hatte. Damals hatte Tybalt sie aus ihrer Kammer geholt und in einen der Türme getragen, um sie in Sicherheit zu bringen. Die ganze Zeit hatte sie sein Gesicht vor Augen, mit dem jungenhaften Lächeln, den vollen Wangen und den großen Augen, die einst tiefblau gewesen waren. Nichts davon würde sie je wiedersehen. Traurig ließ sie den Kopf hängen.
    "Ich hasse den Mann, der das getan hat", sagte sie inbrünstig.
    Die Amme schluckte, ehe sie erklärte: "Dann hasst du den Mann, den du geheiratet hast."
    Es war wie ein Schlag in die Magengrube, und in Windeseile breitete sich der Schmerz in Julias ganzem Körper aus.
    "Du lügst!", stieß sie hervor. "So etwas Böses und Heimtückisches würde Romeo niemals tun! Er hat mir selbst gesagt, dass er noch keiner lebenden Kreatur etwas zuleide getan hat."
    "Er wurde provoziert, Julia. Ich komme gerade aus der Stadt, wo ich etwas zu erledigen hatte, und habe alles mit eigenen Augen gesehen. Ich war nicht die Einzige, es gibt eine Menge Augenzeugen."
    Julia schloss die Augen und versuchte, wieder Herr ihrer Sinne zu werden. Sie atmete tief durch und bat dann: "Erzähl mir alles ganz genau!"
    "Tybalt hat Romeo zum Duell herausgefordert, aber der lehnte ab, weil er nicht gegen den Friedensvertrag verstoßen wollte. Doch dann mischte sich Mercutio ein und kämpfte an Romeos Stelle. Es ging hin und her, und schließlich gewann Tybalt die Oberhand und tötete Mercutio mit bloßen Händen."
    Julia hatte sich inzwischen etwas beruhigt und hörte aufmerksam zu.
    "Dann hat er ihn ausgesaugt", fuhr die Amme fort und tupfte sich mit dem Rocksaum die Tränen aus dem Gesicht. "Mitten auf der Straße, vor aller Augen. Romeo war außer sich vor Entsetzen und nahm Rache. Unglücklicherweise verlief der Kampf tödlich. Jetzt ist der Leichnam deines Cousins eine Trophäe der Montagues, und Romeo wurde des Landes verwiesen. Niemand weiß, wo er jetzt steckt. Es heißt, er ist wie vom Erdboden verschluckt."
    "Du musst ihn finden ...", schrie Julia heiser; dann versagte ihr die Stimme. Vor Schmerz und Verzweiflung konnte sie kaum sprechen. Es war, als schnürte ihr jemand mit eisernem Griff die Luft ab.
    "Hast du den Verstand verloren?", erwiderte die Amme erregt. "Du musst Romeo vergessen! Wenn es nach unserem Herrscher geht, ist er bereits genauso tot wie Tybalt."
    Julia griff nach ihren Händen und küsste sie. "Verzeih, Amme. Ich wollte dich nicht anschreien, aber..."
    "Schon gut", sagte die Amme. "Ich weiß, was du durchmachst. Bei deinem Cousin Tybalt war es genauso. Während eurer Verwandlung seid ihr wehrlos euren Gefühlen und schwankenden Stimmungen ausgeliefert."
    "Warum tust du dann nicht, worum ich dich bitte?"
    "Weil es unmöglich ist. Über Romeo ist ein Bann verhängt worden. Wahrscheinlich hat er sich längst zur moldawischen Grenze durchgeschlagen und das Land verlassen. Ich kann ihn nicht zurückholen."
    Julia war sich ganz sicher, dass die Amme sich irrte. Erst heute hatte Romeo ihr ewige Treue geschworen, und zwar so leidenschaftlich, dass kein Zweifel an seiner Ernsthaftigkeit aufkommen konnte. Das Band zwischen ihnen war unzerstörbar; es war sogar fester als das zwischen der Amme und ihr. Sie wusste, dass nichts und niemand Romeo dazu bewegen könnte, ihre Liebe zu verraten. Diese Überzeugung ließ sie sich nicht nehmen, egal was andere sagten oder dachten.
    "Du irrst dich, Amme. Romeo ist noch in der Nähe. Ich spüre es ganz deutlich", sagte sie und zog ihren Türkisring vom Finger. "Hör zu, Amme! Suche ihn im Kloster. Bruder Lorenzo gewährt ihm sicherlich Unterschlupf. Gib meinem Gemahl diesen Ring und sage ihm, er soll zum Schloss kommen."
    "Sei doch vernünftig, Julia! Das wäre euer Verderben! Du musst von jetzt an einen anderen Weg gehen."
    "Es gibt aber keinen anderen, auf dem ich glücklich werde." Julia schrie beinahe, weil sie so verzweifelt war. "Mir bleibt nur ein Tag, bis meine Verwandlung endgültig vollzogen ist.

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