Dein Blut auf meinen Lippen
geschehen sollte.
Romeo wusste nun, dass Radus Soldaten überall im Land nach ihm Ausschau halten würden. Doch seine Gedanken kreisten um Mercutio. Er konnte den Anblick des toten Freundes nicht länger ertragen - genauso wenig wie den Gedanken, dass Benvolio ihn allein begraben würde. Also verließ er die Schmiede und rannte los, so schnell seine Beine ihn trugen.
Abends, wenn Zitrusdüfte durch die Luft zogen und das Laub leise im Wind raschelte, ging Julia gern im Obstgarten spazieren. Normalerweise empfand sie es als sehr entspannend, aber heute Abend war alles anders. Stunde um Stunde schritt ihre körperliche Verwandlung voran, und sie entwickelte Hungergefühle, die sie nie zuvor gekannt hatte. Schon jetzt waren sie kaum noch auszuhalten. Nicht auszudenken, wie unerträglich sie um Mitternacht des folgenden Tages sein würden! Dennoch war Julia wild entschlossen, die Tat zu verweigern, durch die dieser Hunger gestillt werden konnte.
Sie setzte sich auf eine Gartenbank, zog die Knie ans Kinn und wippte sachte vor und zurück, um ihre inneren Spannungen abzubauen. Sie war froh, dass während ihrer Abwesenheit keiner ihrer Verwandten Verdacht geschöpft oder sie vermisst hatte. Doch seit sie zum Schloss zurückgekehrt war, plagten sie zusätzlich zu ihren anderen Ängsten auch noch die gleichen Zweifel und Fragen wie alle frisch Verheirateten. Hinzu kam, dass sie, statt heute mit Romeo zu einer romantischen Hochzeitsreise aufzubrechen, hier gefangen war - sowohl in den Mauern des elterlichen Schlosses als auch in ihrer eigenen Haut.
Romeo hatte gesagt, sie sollten mit ihrer Flucht warten, bis Julias Verwandlung vollzogen war, weil es für sie dann leichter sein würde, unbemerkt zu verschwinden. Das stimmte zwar, aber Romeo kannte nicht die ganze Wahrheit. Außerdem konnte er die körperlichen Qualen nicht nachvollziehen, die sie inzwischen durchmachte. Ein kalter Schauer fuhr ihr über den Rücken, als sie daran dachte, wie unsagbar glücklich Romeo gewesen war, als sie sich im Kloster voneinander verabschiedet hatten. Sie wagte sich kaum vorzustellen, wie er sich wohl übermorgen fühlen würde, wenn sie ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft der Untoten geworden war.
"Julia! Mein Fräulein!"
Die junge Frau schaute auf und sah die Amme herbeieilen, die aufgeregt mit den Armen fuchtelte. Es war unschwer zu erkennen, dass etwas passiert sein musste. Etwas Schreckliches. Julia sprang auf und lief der Amme entgegen.
"Ist etwas mit Romeo?", fragte Julia besorgt, als beide sich trafen.
Ganz außer Atem und mit Tränen in den Augen antwortete die Amme: "Ja, mein Kind. Ich muss dir etwas Furchtbares erzählen."
"Spann mich nicht auf die Folter", bat Julia und machte sich auf das Schlimmste gefasst.
Die Amme begann zu weinen und wischte sich die Tränen mit dem Ärmel ihrer Bluse ab. "Ich wage es gar nicht auszusprechen. Gerade jetzt bist du nicht in der Verfassung, dir so etwas anzuhören."
"Meine Verfassung spielt keine Rolle. Ich muss wissen, was geschehen ist."
"So eine Tragödie! Mir fehlen die Worte", jammerte die Amme.
Julia wusste, dass dieses Gezeter noch minutenlang so weitergehen konnte, wenn sie nicht energisch Auskunft verlangen würde.
"Genug, Amme!", sagte sie barsch. "Du überstrapazierst meine Geduld." Sie packte die Amme an den Schultern und schüttelte sie, dass ihr die Haube vom Kopf fiel. "Nun sprich schon!"
"Er ist tot, mein Fräulein!", platzte es aus der Amme heraus. "Die Welt hat ihn verloren."
Julia ließ die Amme los und sackte langsam in sich zusammen, bis sie am Boden lag. Ihre roten Augen brannten, als ihr die Tränen kamen, und jeder einzelne Muskel ihres Körpers schien sich zu verkrampfen.
"Mein Gemahl ist... tot?", flüsterte sie fassungslos. "Ich verfluche den Gott, der das zulässt, so wie er mich verflucht hat!"
Die Amme kniete neben Julia nieder und nahm ihr Gesicht in die Hände. "Nein, mein Fräulein, nicht Romeo! Deinen Cousin Tybalt musst du beweinen."
Noch nie hatte Julia so gegensätzliche Gefühle zur gleichen Zeit gehabt. Sie war unendlich erleichtert, dass ihr geliebter Romeo am Leben war, und zugleich völlig entsetzt, dass Tybalts Leben, das doch eigentlich ewig währen sollte, so abrupt geendet hatte.
"Es bricht mir das Herz", sagte sie weinend und zitternd. "Was ist denn passiert?"
Die Amme wischte Julias Tränen mit den Fingerspitzen ab. "Er wurde getötet, in der Stadt, auf offener Straße. Es gab einen Kampf."
"Ich habe ihm immer
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