Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
irgendeiner konkreten Sache sehr einflußreich sein können, höchstens eine Zigarette (aber nie von den pharaonischen) und ausnahmsweise Wermut oder Bier, wenn es Zeit für den Aperitif ist und die Sache sich in die Länge zieht (es gibt einen Minikühlschrank versteckt zwischen den Regalen); und trotz der gelassenen Haltung und dem freundlichen Gesicht der Richterin – das herzliche Lächeln; die sehr helle, aber gesunde Haut; die flinken, lebhaften Augen, trotz ihres blassen Blaus; die deutlichen Augenringe, die so tief sind und ihr so gut zu Gesicht stehen, daß sie sie schon als kleines Mädchen gehabt haben muß; das gelöste, rasche Lachen mit einer Spur Höflichkeit darin, die nicht seine Spontaneität ausschließt, wohl aber jede Form von Anbiederung, es gibt nicht den geringsten Anflug; die amüsierte Gewißheit, daß ihr von Tupra ein gewisses Begehren entgegenschlägt, trotz ihres nicht mehr günstigen Alters (ein theoretisches Begehren womöglich, oder ein rückwirkendes oder imaginäres), denn er erkennt die junge Frau, die sie war, oder wittert sie noch, und sie, die es nicht mehr ist, nimmt es wahr, es gefällt ihr und verjüngt sie – erscheint mir beim Anhören der jungen Nuix alles plausibel, was sie bemerkt und mir beschreibt, denn ich sehe in dieser Richterin tatsächlich etwas, das der Erregung oder der Vitalität gleicht, die sich einstellt, wenn man ein bedeutendes Geheimnis kennt und sich geschworen hat, es nicht zu teilen.
Natürlich spricht die junge Nuix nicht so, während wir beide schauen und uns Notizen machen in dem Abteil, nicht so fortlaufend und nicht so präzise (ich ordne es und gebe ihm jetzt Gestalt, wie wir alle es tun, wenn wir etwas erzählen, und außerdem ergänze ich es mit Hilfe ihres späteren schriftlichen Berichts), vielmehr äußert sie mir gegenüber einzelne Kommentare, über den Tisch hinweg, uns sehen und hören sie nicht, obwohl sie ganz genau wissen, wo wir sind, abkommandiert durch Tupra selbst. Und während ich ihr zuhöre, denke ich – denke ich jedes Mal, nicht nur, während sie diese Richterin interpretiert, die Richterin Walton – an die Worte, die Wheeler an jenem Sonntag Tupra in den Mund gelegt hatte: »Er sagt, mit der Zeit wird sie die beste der Gruppe sein, wenn er es fertigbringt, sie lange genug zu halten«, und ich frage mich jedes Mal, ob sie es nicht schon ist, ob sie nicht am meisten differenziert und die begabteste ist, am meisten riskiert und von uns fünfen am tiefsten blickt, die junge Pérez Nuix mit spanischem Vater und englischer Mutter, aufgewachsen in London, aber mit dem väterlichen Land so vertraut wie ich selbst (nicht umsonst hat sie mehr als zwanzig Sommer unweigerlich dort verbracht), völlig zweisprachig im Unterschied zu mir, denn bei mir herrscht die Sprache vor, mit der ich zu sprechen begonnen habe, so wie auch Jacques für mich immer der Name sein wird, weil er es ist, auf den ich am Anfang gehört habe und bei dem ich gerufen wurde von der Person, die am meisten rief. Auch bei dieser jungen Frau ist das Lächeln herzlich und das Lachen gelöst und rasch, und auch ihre Augen sind sehr flink und lebhaft, um so mehr, da sie kastanienbraun sind und sicher noch nicht sehr belastet mit aufdringlichen Bildern, die nicht weichen. Sie mag fünfundzwanzig Jahre alt sein oder vielleicht zwei Jahre älter oder ein Jahr jünger, und wenn unsere Blicke sich treffen, über den Tisch hinweg oder bei irgendeiner anderen Gelegenheit, bemerke ich, daß Luisa und meine Kinder zu verblassen beginnen, während sie mir in der übrigen Zeit allzu deutlich vor Augen stehen, obwohl sie so weit entfernt sind, dabei sind die Gesichter der Kinder so veränderlich, daß sie nie nur ein einziges, beständiges Bild haben; mir wird bewußt, daß sich das der neuesten Fotos festsetzt oder dominiert, die ich mit nach England gebracht habe, ich trage sie in der Brieftasche wie jeder gute oder schlechte Vater, und außerdem schaue ich sie an. Ich bemerke auch, daß die junge Nuix mich nicht verwirft, trotz des Altersunterschieds; oder man sollte es besser im Konditional sagen: ich habe die vage Vorstellung, daß sie eine sexuelle Bindung mit Tupra hat oder hatte, obwohl nichts eindeutig darauf hinweist und sie einander mit Respekt und Humor und einer Art wechselseitigem Paternalismus begegnen, vielleicht ist das der wichtigste Hinweis. (Aber ich habe die Vorstellung, und ich weiß, daß man mit Tupra nicht konkurriert.) Daß sie mich nicht verwirft
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