Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
dich, als du es von dieser Frau gehört hast. Es wurde von der Person erzählt, die es getan hatte, noch dazu angeberisch. Und damals war es gerade geschehen. Es geschah noch, hier und überall, das ist etwas ganz anderes. Mach dir keine Sorgen. Du kannst mir alles erzählen, nichts davon wird schlimmer sein als vieles von dem, was ich lese oder was wir jeden Tag im Fernsehen sehen. Werde du mir jetzt nicht auf einmal zum kindischen Vater, in deinem Alter. Das fehlte gerade noch. Außerdem müßte ich dich anzeigen. Dich der verweigerten Fürsorge beschuldigen und, wie hast du gesagt, der unterlassenen Hilfeleistung.«
Er lachte ein wenig, er fand es amüsant, daß ich seine aus dem Ärmel geschüttelten Vorbehalte mit seinen eigenen Argumenten und Begriffen entkräftete, er hatte sie gerade gebraucht. Aber er konnte es sich nicht verkneifen, mich mit einem Plural zu bedenken, bevor er fortfuhr: uns vier Geschwister in einem Topf zu werfen war auch eine Form, den gegen einen einzigen gerichteten Tadel abzuschwächen.
»Was für Narren ihr doch manchmal seid«, sagte er. Und dann machte er mich wieder zum Singular. »Also. Ich werde dir nicht sagen, wer es war, seinen Namen. Ich kann nicht sicher sein, daß du ihn für dich behalten wirst, wenn du ihn weißt, so wie ich es immer getan habe. Aus deiner Sicht hättest du keinen Grund dafür. Du würdest dich nicht verpflichtet fühlen, nicht einmal, wenn ich dich darum bitten würde, und ich gehe lieber kein Risiko ein, Jacobo. Es ist nicht aus Rücksicht auf ihn, denn ich habe nur Verachtung und Groll für ihn übrig gehabt, seit ich die Geschichte von ihm gehört habe. Oder mehr als das: Abscheu, eine ungeheure Aversion. Rachsucht vermutlich nicht, vor allem wegen der Kräfte, die die Sucht nach etwas verzehrt, das sich nicht verwirklichen läßt, ich war ein Geächteter und er ein Sieger mit Einfluß, das mußt du bedenken. Fünfzig Jahre lang hat er nicht aufgehört, Bücher zu veröffentlichen und Preise zu erhalten und gefeiert zu werden und in der Presse und im Fernsehen zu erscheinen, und ich glaube, die Hälfte davon oder länger habe ich nicht eine Zeile von ihm gelesen und rasch jede Zeitungsseite umgeblättert, auf der ein Interview mit ihm stand oder die Rezension eines seiner Werke, ich konnte es nicht ertragen, sein Gesicht oder seinen Namen gedruckt zu sehen. Später dann doch: ich war neugierig zu erfahren, wozu er fähig war, wie weit er es treiben mochte mit der biographischen Fiktion, die er sich in der Öffentlichkeit ohne jede Scham zu fabrizieren begonnen hatte. Vor allem aber ergab es sich zufällig, aus Arbeitsgründen, daß ich seine Frau kennenlernte und mit ihr Kontakt hatte. Sie war ein herzensguter Mensch und sehr fröhlich, bestimmt wußte sie nichts von den widerlichsten Seiten ihres Mannes oder den widerlichsten Tatsachen seiner Tätigkeit im Krieg. Sie war um einiges jünger als er, zehn oder zwölf Jahre, sie mußten etwa 1950 geheiratet haben, er schon ein wenig spät für die Zeit, mit fünfunddreißig Jahren oder mehr. Und sie war nicht nur herzensgut und fröhlich und kompetent, sondern hat sich auch einmal uns gegenüber sehr gut verhalten, besonders gegenüber deiner Mutter. Das tut nichts zur Sache. Aber ich bin ihr nach wie vor sehr dankbar, und meine Wertschätzung hat immer ihr gegolten, nicht ihm.«
»Lebt er noch? Leben sie noch?« fragte ich.
»Nein. Er ist vor einigen Jahren gestorben, und sie ist ihm bald darauf gefolgt.«
»Also?« Was besagen sollte: Warum also die Wertschätzung und das Schweigen bewahren? Und mein Vater verstand es.
»Es gibt noch die Töchter, zwei sehr hübsche, reizende Mädchen, ich habe sie ein- oder zweimal gesehen. Und sie waren auch ihre Töchter, sind es noch, nicht nur die des bedeutenden Mannes. Na ja, bedeutend, solange er lebte und seinen Platz verteidigen konnte, und dafür hat er alle Mittel eingesetzt. Aber es sind nur wenige Jahre vergangen, und man redet kaum noch von ihm, und die Erinnerung an ihn wird noch mehr verblassen, eine aufgeblähte Gestalt. Aber ich würde den Töchtern von ihr nicht gern einen solchen Verdruß bereiten, sie hat sie fast ebenso geliebt wie den niederträchtigen Ehemann, sie hat sich für sie aufgeopfert und vor allem für ihn, eine beständige Liebe, wie es sie zuweilen gibt, die nicht geringer und nicht in Frage gestellt wird, weder von der Zeit noch von den Treulosigkeiten, sie steht darüber (verzeihliche Treulosigkeiten, er liebte sie auch sehr
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