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Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Titel: Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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auf seine egoistische, frivole Weise und hätte nicht ohne sie sein können; selbst darin hatte er Glück, daß er vor ihr gestorben ist). Nein, ich würde ihren Mädchen nie diese Schande bereiten. Selbst wenn es die beiden nicht gegeben hätte. Ich würde sie auch nicht postum jemandem bereiten wollen, der so herzlich und mitfühlend war. Ich glaube, für eure Generation und die noch jüngeren ist der gute oder schlechte Leumund der Toten nicht so wichtig, für uns dagegen wohl. Im übrigen wird sicher jemand die Sache irgendwann aufdecken, da es sich um eine öffentliche Person handelt, und wer weiß, vielleicht ist es dann allen Leuten gleichgültig und wird nicht als Schande angesehen, nicht einmal als Fleck, und seine Apologeten übergehen es, als sei es anekdotisch: dieses Land ist nicht nur oberflächlich, es ist willkürlich und sehr einseitig, und wenn es jemandem Dispens erteilt, dann nimmt es ihn selten zurück. Aber ich werde nicht derjenige sein, der es erzählt, und man wird es auch nicht durch eine Unvorsichtigkeit erfahren, die ich dir gegenüber begehe, nicht durch ein Versehen, nicht durch mich. Obwohl die meisten wohl schon tot sind, wir waren zu fünft, als ich die Geschichte von ihm hörte, und es war sicher nicht das einzige Mal, daß er so damit angab, also werden einige sie kennen (es kann gut sein, daß nur noch wenige davon leben). Aber es würde mich nicht wundern, wenn es das letzte Mal gewesen wäre und er von diesem Aperitif an versucht hätte, sie für sich zu behalten, und sogar schon den Prozeß der späteren sorgfältigen Verheimlichung eingeleitet hätte. Das ist sehr wahrscheinlich.«
    »Aperitif? Was hat er denn erzählt«, fragte ich, ohne fragenden Tonfall. Mir wurde klar, daß ich es nunmehr wissen wollte, obwohl ich im allgemeinen meinem Vater nichts zu entlocken suchte, selbst wenn ich neugierig war, ich ließ seine Erinnerungen in Frieden, wenn er sie nicht von sich aus und freiwillig heraufbeschwor. Und auch, obwohl ich ihn ein wenig belogen hatte und nebenbei auch ein wenig mich selbst, einen Moment lang: es stimmte nicht, daß er mir alles erzählen konnte, ich meine, ohne Folgen für meine seelische Verfassung oder meinen Kummer, auch nicht, daß das Unangenehme, wenn es von seinen Lippen kam, erträglicher oder weniger schlimm zu wissen war als die größten Grausamkeiten, die man aus den Geschichtsbüchern kennt, oder die gegenwärtigen, die man im Fernsehen sehen kann. Was er erzählte, war nicht nur genauso wirklich und wahrhaftig wie die Belagerung Wiens im Jahre 1529 oder der schreckliche Fall Konstantinopels unter dem Ansturm der ungläubigen Türken im Jahre 1453; wie das Massaker von Wheelers Landsleuten in Gallipoli und die drei Schlachten oder Blutbäder in Ypern während des Ersten Weltkrieges; wie die Zerstörung des Dorfes Lidice und die Bombardierungen von Hamburg und Coventry und Köln und London während des Zweiten; es war darüber hinaus hier geschehen, in denselben friedlichen, heiteren, heute wohlhabenden Städten und Straßen, »lieblichen Gefilden«, in denen ich den Großteil meines Lebens und fast meine ganze Kindheit verbracht hatte; und es war nicht nur hier geschehen – ebenso wie die Erschießungen am 3. Mai 1808 in dem von den Engländern so genannten Krieg auf der Halbinsel oder wie die Belagerung Numancias von 154 bis 133 vor Christus oder so viele andere blutige Taten –, sondern es waren überdies Dinge, die ihm zugestoßen waren, die seine blauen Augen gesehen hatten und jetzt wieder sahen (jetzt glanzlos und mit geweiteter Iris) oder seine schutzlosen Ohren gehört hatten und jetzt wieder hörten (der verkrampfte Magen, die verengte Brust wie in den trüben, unruhigen Träumen, all das Blei auf seiner Seele). Was es für mich schwieriger machte, seine schlechten Erfahrungen zu kennen, verglichen mit fast jedem Unheil oder jeder Grausamkeit der Vergangenheit oder sogar der Gegenwart, aber in der Ferne, war der Umstand, daß sie ihn persönlich betroffen und seinen Lebenslauf beeinträchtigt hatten, den eines mir so nahen Menschen, der außerdem mein Gegenüber war, noch lebend, noch gegenwärtig, wer konnte wissen, wie lange noch, und mit noch immer sehr klarem Kopf. Nein, die Information aus erster Hand, die von einem Unbekannten stammt – einem Chronisten, einem Zeugen, einem Sprecher, einem Historiker –, nimmt man nicht auf, verarbeitet man nicht wie die von jemandem, den man seit seiner Geburt kennt. Man sieht dieselben

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