Dein ist das Leid (German Edition)
zusammenstellen und ihnen beibringen, wie sie damit umgehen sollen. Irgendwas Schlichtes, das leicht abzuhaken ist, mit dem uns aber trotzdem keine brauchbare Spur entgeht.“ Sie drückte die Kurzwahltaste, unter der Marcs Nummer auf ihrem Telefongespeichert war. „Marc soll rüber ins Krankenhaus fahren. Der ist dafür am besten geeignet. Der bewahrt die Ruhe und kann auch Amanda beruhigen.“
„Der kann jeden beruhigen – außer denjenigen, denen er die Seele aus dem Leib prügelt“, murmelte Ryan.
„Wie wahr.“
Marc hob beim zweiten Klingeln ab, klang sofort ganz wach und machte sich gleich auf den Weg. Der Mann war ein Segen. Einmal ein Navy SEAL, immer ein Navy SEAL. Vermutlich hatte er vor Sonnenaufgang schon hundert Liegestütze gemacht. Er schien nie zu schlafen.
Rick Jones, Detective beim New York State Police Department, saß kurz nach Dienstbeginn an seinem Schreibtisch, als das Telefon klingelte.
„Jones“, meldete er sich, gleichzeitig den Hörer und einen Plastikbecher mit Kaffee balancierend, um nichts über die Papierberge auf seinem Schreibtisch zu verschütten.
„Die Freundin hat ein Video auf YouTube hochgeladen“, teilte ihm die Stimme am anderen Ende mit. „Da ist alles drin, inklusive eines Bildes von ihm und der Bitte, sich zu melden, wenn jemand was über ihn weiß. Es ist seit halb sieben zugänglich und wurde schon über hunderttausend Mal angeklickt. Da ist nichts mehr zu machen. Der Mord an Everett kommt wieder in die Schlagzeilen, und Sie haben die gottverdammten Medien am Hals.“
„Was soll ich Ihrer Meinung nach tun?“, fragte Jones.
„Nehmen Sie sich die ganze Akte wieder vor.“
„Was für eine ganze Akte? Das sind bloß ein paar Blätter.“
„Blasen Sie’s auf. Es muss so aussehen, als ob Sie gründlich ermittelt hätten. Datieren Sie alles zurück. Vernichten Sie alles, was darauf hindeutet, dass Sie den Fall der Küstenwache zugeschoben haben. Die Medien werden überall herumschnüffeln. Und das ist für uns alle gar nicht gut. Ist das klar?“
„Glasklar.“
„Gut. Dann los – geben Sie Gas.“
Marc saß im Wartebereich vor der Intensivstation, trank einen Kaffee und wartete darauf, dass Amanda herauskam.
Als sie endlich kam, war sie unsicher auf den Beinen und wirktevöllig erschöpft. „Hi“, sagte sie matt.
„Hi.“ Marc nahm einen weiteren, beruhigenden Schluck und stellte die Tasse auf einen Tisch. „Wie geht es Justin?“
„Unverändert.“ Amanda ließ sich auf ein Sofa sinken. Der gelbe Schutzanzug über der Kleidung knisterte. „Oh.“ Sie schien den Anzug und die Schutzmaske im Gesicht jetzt erst zu bemerken. Sie nahm die Maske ab. „Die hätte ich wegwerfen sollen, bevor ich rausging. Ich muss eine neue, sterile anziehen, wenn ich wieder reinwill.“ Sie nahm das Gesicht in die Hände. „Wieso wirken die Antibiotika nicht? Warum geht sein Fieber nicht runter?“
„Es ist ja erst ein Tag vergangen“, sagte Marc beruhigend. „Ich weiß, für Sie fühlt sich das an wie eine Ewigkeit. Aber das ist es nicht. Geben Sie der Medizin ein bisschen Zeit.“
„Und was dann? Er wird sich die nächste Infektion einfangen.“ Amanda sah nach oben; der Schmerz stand ihr im Gesicht geschrieben. „Und ich kann nichts dagegen tun.“
„Letzte Nacht haben Sie jedenfalls Ihr Bestes gegeben.“ Marc war direkt, aber nicht unhöflich. Die Frau stand kurz vor einem Zusammenbruch. Sie hatte eine Verzweiflungstat begangen, um Paul vielleicht doch noch zu finden. Sicher, das hatte die Ermittlungen verkompliziert. Und beinahe Ryans kostbaren Server zum Schmelzen gebracht. Aber die Suche war auch zuvor nicht geheim gewesen. Und der Server war nicht abgestürzt. Jetzt saßen genug Studenten im Büro, um die Anrufe entgegenzunehmen.
Wie sollte er da wütend sein? Schließlich hing das Leben ihres Kindes an einem seidenen Faden.
Amanda starrte ihn ausdruckslos an, als wäre sie gar nicht mehr bei sich. Es schien, als würde sie gar nicht kapieren, wovon er redete. Dann dämmerte es ihr langsam. „Sie reden von dem Video.“
„Genau. Sehr eindrucksvoll. Klar und knapp, herzzerreißend, tolle Aufnahmen. Sie müssen begabte Freunde haben. Und außerdem haben Sie Ihr Ziel erreicht. Sie haben die Aufmerksamkeit der Welt erregt. Das Video wird wahnsinnig oft angeklickt. Es kommen so viele Anrufe, dass unser Server sich beinahe aufgehängt hat.“
„Ist schon irgendwas Nützliches hereingekommen?“, fragte sie, beinahe flehend. „Hat jemand
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