Dein ist das Leid (German Edition)
arbeitet er bei der Abteilung für Verhaltensanalyse in Quantico. Allein bei diesem Wort ist jeder beeindruckt.“ Ryans Finger sausten über die Tasten. „Hau dich besser auch noch mal hin, Boss. Ich rufe an, wenn ich was herausfinde. Ist aber nicht sehr wahrscheinlich, er hat vermutlich ein Wegwerfhandy benutzt. Falls ich mich täusche, erfährst du es als Erste.“
Lisa Mercer wusste, dass ihr Vater wieder in Washington war, wo er jeden Morgen um halb sechs zu seiner Joggingrunde aufbrach. Deshalb rief sie ihn sofort an, als sie wieder in ihrem Zimmer im Studentenwohnheim der Northwestern University war und den Anrufbeantworter abhörte, nachdem sie die ganze Nacht mit anderen für die Prüfungen durchgepaukt hatte. Im Mittleren Westen war es vier Uhr morgens.
„Hi, Lisa.“ Der Abgeordnete klang kein bisschen überrascht, um diese Zeit von seiner Tochter zu hören. In Pasadena, Kalifornien, war es erst halb drei, sonst wäre Tom, der an der Cal Tech studierte, auch schon am Telefon.
„Was ist los, Dad?“, fragte sie ohne jede Vorrede. „Ich hab deine Nachricht gekriegt, aber nicht verstanden. Ich habe gelesen, dass du und Mom euch habt testen lassen, wegen dieses armen Babys, und ich finde das super. Aber wieso rufst du mich deswegen an?“
Cliff Mercer kniff die Lippen zusammen und ließ sich auf die unterste Stufe der Treppe sinken, die zum Eingangsbereich seines Washingtoner Apartmenthauses führte. Am liebsten hätte er den Mund nie wieder aufgemacht, um nicht in diese Schlangengrube zu fallen. Aber das war nicht möglich, denn seine Karriere stand auf dem Spiel. Er konnte nur versuchen, diese Angelegenheit so einfach und unschuldig wie möglich erscheinen zu lassen, in der Hoffnung, dass niemand von seinem Geheimnis erfuhr – nicht einmal seine eigenen Kinder. Siestanden seinem Vater – oder besser, dem Mann, der ihn aufgezogen hatte – nicht besonders nahe. Aber er war der einzige Großvater, den sie hatten. Die Einzige, der er sein Geheimnis anvertraut hatte, war seine Frau Mary Jane, und die war genauso entschlossen wie er, es nicht ans Licht kommen zu lassen.
Was den Rest der Welt anging, könnte er seine Träume von höheren Ämtern in den Wind schreiben, wenn die Wahrheit über ihn und Fenton herauskäme.
„Dad?“, wiederholte Lisa.
„Entschuldige, Schatz. Ich hab mir gerade die Schnürsenkel zugebunden. Ich wollte nicht geheimnisvoll klingen. Es ist bloß so, die Mutter dieses Babys, Amanda Gleason, ist eine Fotografin, sie hat beim letzten Wahlkampf Fotos gemacht und auch bei einigen Anlässen während der gegenwärtigen Wahlperiode. Sie ist wirklich nett. Und die Vorstellung, dass sie ihr Baby verlieren könnte … ganz undenkbar. Deshalb haben Mom und ich uns testen lassen. Ich hätte gern, dass du und Tom euch auch testen lasst, sozusagen als Geste des guten Willens. Ich habe keine große Hoffnung, dass irgendwer von uns als Spender infrage kommt, aber wenn es noch mehr Leute im Wahlbezirk dazu bringt, sich testen zu lassen, ist es die Sache wert.“
„Da ich dich kenne, nehme ich mal an, es ist tatsächlich nur eine Geste des guten Willens und nicht irgendeine politische Machenschaft.“
„Selbstverständlich. Ich würde doch nicht einen todkranken Säugling für politische Zwecke missbrauchen.“
Lisa seufzte. „Entschuldige. Das kam nur gerade ganz unerwartet. Was passiert, wenn ich als Spender infrage komme? Muss ich dann ein Organ spenden oder so was?“
„Natürlich nicht. So etwas würde ich nie von dir verlangen. Es ist einfach eine Art Bluttransfusion. Mehr nicht. Aber darüber brauchen wir gar nicht zu reden, bis es dazu kommt, falls überhaupt. Ich kann dich natürlich nicht zwingen. Aber ich weiß doch, was für ein großes Herz du hast. Also dachte ich, fragen kann ich ja mal.“
„Kein Problem. Ich kann nach der letzten Vorlesung rüber ins Evanston Hospital gehen. Aber eine Bitte, Dad: keine Medien, keine Öffentlichkeit. Lass mich das in aller Stille machen. Wenn du unbedingt eine Presseerklärung rausgeben willst, dass deine Kinder sich auch haben testen lassen, dann warte wenigstens, bis die Prüfungen vorbeisind. Tom sieht das sicher genauso. Wir haben gerade genug zu tun, wir können wirklich keine Lokalreporter brauchen, die an unsere Türen hämmern und wissen wollen, wieso wir so aufopferungsvolle junge Leute sind.“
„Das versteht sich doch von selbst.“ Cliff rieb sich die Schläfen. Er fühlte sich wie der schlimmste Rabenvater der Welt.
Weitere Kostenlose Bücher