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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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an einem solchen Tag? Hätte er einen regulären Beruf, stellte sich die Frage nicht. Bei dem Musiker ist weiterhin besetzt. Ja, bestimmt hat er den Hörer neben das Telefon gelegt, kein gutes Zeichen. »Bitte melde dich, sobald es dir möglich ist und du gelegenheit findest«, simst der Freund am Mittwoch, dem 28. Februar 2007, um 11:11 Uhr: »Bin besorgt. Qorbanat«. Qorbanat heißt »dein Opfer«. Wenigstens im Persischen, wo Verehrung nicht verdächtig, Ergebung kein Skandal und Hochachtung kein Scherz ist, kann man Mitteilungen noch so unterzeichnen wie Hölderlin seine Briefe, »Ich bin mit der wahrsten Hochachtung Ihr ergebenster Verehrer«. Das gehört zu den Vorteilen einer zweiten Sprache: Was hier fehlt, nimmt man sich dort und umgekehrt. Nicht zu übertreffen ist außerdem der Klang persischer Kosewörter wie djunam , djudjeh , djudju, djuneh , djun-e delam und so weiter, das dj so weich wie eine Umarmung, das u wie zum Kuß. Oder das azizam wie ein Tanz, je nach Betonung kokett oder wie Tango, obwohl es nur meine Liebe bedeutet. Er muß überhaupt nicht nachdenken, für welche Sprache er … Der Musiker ruft an. Schon am Wochenende, womöglich am Freitag, beginnt die Chemotherapie. Das ist keine Sache, an der man sterben muß, beeilt der Musiker sich hinzuzufügen: Wenn man früh genug etwas tut, kriegt man es in den Griff. Da ist es wieder: in den Griff kriegen . Nur die Prozentangaben fehlen noch. Das ist allerdings ebensowenig eine Sache, die man wegbekommt, fährt der Musiker fort. Das bleibt jetzt, auch nach der Chemotherapie. Er wird damit leben. Der Freund schließt daraus, daß es sich um die chronische Variante des Krebses handelt, die bessere. Er hat keine Ahnung, daß es den Krebs des Musikers in Dutzenden Varianten gibt und die Aufteilung in gut und schlecht nur ein Internetspiel ist, um Ahnungslose einmal anders zu vertrösten als mit der üblichen Unverschämtheit: Ich kenne jemanden, bei dem … ich kenne jemanden, der … Der Musiker spricht stets von der Sache , nicht von Krebs, von Man muß jetzt Gas geben , nicht von Chemotherapie, von Schritt für Schritt , nicht von Angst. Dem Bildhauer will er es nun doch verbergen, dem eigenen Vater. Auch die Hausärztin habe dazu geraten. Der sei am Ende, habe sie gesagt. Die Gnädige Frau ist zurück auf der Palliativstation. Es geht ihr schlechter, noch schlechter. Jetzt ist auch noch das Atmen zum Problem geworden. Aus vier Menschen besteht die Familie in München, die der Freund aus Köln so liebgewonnen hat wie seine eigene, jeden für sich. Er kann den Gedanken immer nur bis zur Hälfte denken: Wenn nun Gott verhüte zwei von ihnen aufhörten zu atmen, die Hälfte oder drei Viertel, denn der Bildhauer würde es womöglich nicht lang überleben, der Freund kann das nicht einschätzen, dann ist die Familie … Der Freund sagt dem Musiker, daß er nach München käme, am Freitag morgen, nach der Lesung in Mannheim, nicht erst Mittwoch, wenn er in München liest. Jemand müsse dasein, wenn der Musiker von der Chemotherapie in das Krankenzimmer zurückgerollt werde. Der Musiker will das nicht. Der Freund fragt, wie es möglich sei, die Sache vor dem Bildhauer zu verheimlichen? Eine Glatze will der Musiker sich heute schneiden lassen, weil die Haare bereits ausfallen, so tun, als seien Glatzen Mode geworden. Er ist nicht mehr klar wie gestern, äußerlich gefaßt, aber nicht mehr so, daß man die Furcht überhört, die er abwehrt. Er habe es sich genau überlegt: Die Nerven seiner Schwester schon zu schwach, das Herz seines Vaters zu labil, und eine Hilfe könne ihm keiner von beiden sein. Über seine Mutter brauchten sie gar nicht zu reden. Vielleicht beginne die Chemotherapie doch erst nächste Woche, dann hätten sie noch ein wenig mehr Zeit zum Überlegen gewonnen. Schritt für Schritt. Mit den Haaren, einverstanden, wolle er warten, bis er wisse, wann er Gas gibt. Freitag morgen von Mannheim nach München weiterzufahren wäre dem Freund ohne weiteres möglich, weil die Tochter den Besuch bei den Großeltern nachholt. Allerdings steht der Frau Montag ein kleiner Eingriff bevor, irgend etwas mit Kortison, nichts Schweres wohl, aber so, daß er in Köln sein sollte. Freitag München, Sonntag zurück, das ginge; Montag der Eingriff, Dienstag Basel, Mittwoch früh nach Berlin und

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