Dein Name
lediglich die Korrespondenz. Freitag abend hinterlieà er in Bielefeld einen sympathischen Eindruck. Zurück zu Hause fand er die allererste Mail vor, die ihm die Tochter geschrieben hat. Den Account hatte er ihr eingerichtet, bevor er die Wohnung verlieÃ. »Hallo/ Papa, / dir habe ich noch keine E-Mail geschikt. Ich freue mich schon sehr auf morgen. Dann tschüs.« Es ist auch GroÃes geschehen an diesem Wochenende: die erste von hoffentlich Hunderten, Tausenden Mails der Tochter an ihren Vater. Nur wenn er nichts tat, packte ihn die Hilflosigkeit am Kragen. »Vielen Dank für Deine Nachricht«, mailte er zurück. »Damit hast Du mir vor dem Einschlafen eine groÃe Freude bereitet. Bin gespannt, ob es Dir morgen überhaupt gefällt. Kann ja sein, daà Du Dich nur langweilst. Aber Hauptsache, wir sind zusammen. Das ist das Wichtigste. / Bin gegen halb sechs zurück. / Dein Papa.« Samstag fuhr er für eine Radiosendung vier Stunden mit dem Zug und wieder zurück, um rechtzeitig in der Philharmonie zu sein. »Ich habe mich auch über deine nachicht gefreut danke«, las er bei der Ankunft. »Beschtimt macht es mir in der Villamoni spaÃ. Hofentlich macht es dir auch spaÃ. Bis halb 6«. Es war der gleiche Tag, an dem er sich ausmalte, wie der Bildhauer und die Sängerin in München auf die Beruhigung reagieren, daà ihr Sohn und Bruder nicht gleich sterben werde. Mit Hölderlin hörte er auf, weil die Frau sich zu ihm setzte. Es hilft, wenn einer neben einem sitzt. Er könnte nicht benennen wie, und es ist auch nicht spektakulär, aber es hilft. Er legte sein Ohr an ihren Bauch. Sie streichelte ihm den Kopf. Er redete zu der Ungeborenen, auf persisch wie mit der Tochter. Zur Frau sagte er, daà der Kopf mit den kurzen weiÃen Haaren und dem unsagbar traurigen Blick ihm weiterhin wie ein Gesicht erscheine, aus dem er bald erwachen werde wie aus den Alpträumen. Er könne sich nicht nicht vorstellen, daà die Gnädige Frau wieder mit ihren halblangen schwarzen Haaren am Ende des EÃtisches in München sitzt und ihn milde anlächelt. Da hat man so viel Zeit für den Gedanken, daà sie stirbt, und gewöhnt sich keinen Grad, Meter, Liter, Gramm, Byte oder Protonen. Für den Mann und die Kinder der Gnädigen Frau ist es anders. Ihr Leben wird nicht mehr das alte sein, auf keinen Fall das Leben des Bildhauers, der Verlust real, jeden Tag sichtbar, für den Bildhauer jede Nacht. Was Trauer ist, braucht in ihrem Fall keine Erklärung, es ist so konkret wie ein Mensch oder ein Stuhl oder ein Baum, der vor einem steht, nicht bloÃes Gefühl. Für die Freunde hingegen â nun, der Freund aus Köln wird nicht mehr an dem EÃtisch in München sitzen, nicht mehr so häufig oder jedenfalls ohne die Gnädige Frau. Wie oft war das? Zuletzt zwei-, dreimal im Jahr vielleicht, nicht öfter. In Köln hat sie ihn gegen alle Ankündigungen ohnehin nie besucht. Dafür besuchte sie mit dem Bildhauer alle Veranstaltungen des Freundes in München. Bleibt der Bildhauer dort wohnen, wird er nach einer langen oder kurzen Pause weiterhin die Veranstaltungen des Freundes besuchen. Er wird in der ersten Reihe sitzen und den Freund anschlieÃend beim Essen dafür schelten, wieder viel zu schnell gesprochen zu haben, absolut unverständlich. Die Sängerin wird widersprechen. Die Gnädige Frau würde begütigen. Es wäre eine Lüge zu behaupten, daà ihr Tod erkennbar gröÃere Auswirkungen haben wird auf den Freund. Es wird ihm nichts weggenommen. Es wird ihm nur nichts Neues mehr gegeben. Sie hört einfach auf. Jetzt hat er am Montag, dem 26. Februar 2007, doch mehr als nur Mails schreiben können, sogar mehr als an helleren Tagen, 10.642 Zeichen inklusive Leerzeichen. Es ist 15:04 Uhr oder 15:11 Uhr oder 15:29 Uhr. Er spreche es nur aus: Jetzt befragt, würde er seinen Zustand nicht als depressiv wie gestern abend oder noch heute morgen bezeichnen. Den Rest des Tages kommt er durch. »Weil ich zerstörbarer bin, als mancher andre«, schrieb Hölderlin 1798 im Brief an Neuffer, »so muà ich um so mehr den Dingen, die auf mich zerstörend wirken, einen Vorteil abzugewinnen suchen, ich muà sie nicht an sich, ich muà sie nur insofern nehmen, als sie meinem wahrsten Leben dienlich sind. Ich muà sie wo ich sie finde, schon zum voraus als unentbehrlichen Stoff nehmen, ohne den
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