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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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sprach in höchsten Tönen von »dieser großen, unbedingten Liebe der letzten Wiener Jahre«. 4) In der Post lag gestern außerdem ein Brief von Karl Otto Hondrichs Witwe: »Wir bedanken uns für die große Anteilnahme und Unterstützung, Briefe, Blumen und Kränze sowie die vielen Beweise persönlicher Verbundenheit.« Daneben handschriftlich: »Es war so unerwartet wie berührend, daß Sie in Karl Ottos letztem Jahr an seinem Leben/Sterben Teil hatten, und ich danke Ihnen, daß Sie für uns da waren.« Ob sie der Anteilnahme des Orientalisten aus Köln auch Glauben schenkte, wenn sie von dem Roman wüßte, den ich schreibe? Er würde ihr gern sagen, daß er es noch nie so ehrlich meinte, aber um ein Ehrenwort zu geben, müßte sie zuerst an ihm zweifeln. Ob er sich selbst Glauben schenkt? 5) Auf dem großen Flachbildschirm konnte man alles erkennen, dreidimensional und farbig das ganze Gesicht des Mädchens von tausendnochwas Länge oder hundert oder zehn, das ihre Geburt wahrscheinlich bereits überleben würde. Noch zwei Monate, dann würde man nicht mehr von einem Risikokind sprechen (die Gynäkologin gebrauchte ein anderes Wort, das dem Vater nicht mehr einfällt). Das half, das half wirklich, der erste Eindruck, der sich gegen München behauptete. 6) Vorgestern, Sonntag, ab dem Nachmittag der Nerv rechts neben dem Brustwirbel, den er diesmal mit der üblichen Dosis besänftigen konnte. – Ich hab’s geahnt, sagte die Frau, als sie das Opiat in seiner Hand sah. 7) Der Sonntag vormittag mit der Tochter verschaffte ihm anders als sonst kaum Erleichterung. Sie waren im Museum, wo sein Text über die heilige Ursula schon nicht mehr zu hören ist. Auf dem Rückweg zeigte er der Tochter Ursulas Kirche. Die Goldene Kammer war geschlossen, obwohl sie dem Aushang zufolge geöffnet sein sollte. Sie vermuteten, daß der Wärter die Zeitumstellung vergessen hatte. 8) Nach Köln zurückgekehrt, blieb er in der Nacht zum Sonntag lange stumm. Später entzündete sich an den letzten Worten der Gnädigen Frau ein Streit: Besch begu âghel bescheh. Sag ihr, daß sie vernünftig werden soll. Agar âghel schewad, mâdarham mischeh . Wenn sie vernünftig wird, wird sie auch Mutter werden. Natürlich hat sie recht, beharrte er, ohne noch Mitgefühl übrig zu haben, vielleicht nicht in den Worten (daß sie überhaupt noch Worte gefunden hatte), aber in dem, was sie meinte. 9) Die Fahrt von München nach Köln erwähnte er bereits. Ankunft war schließlich gegen halb zwei. Die Punkte 10), 11) und 0) verschiebt er einen weiteren Tag.
    10) Der Musiker in München sah wie ein Gespenst aus. Wie sehen Gespenster aus? Man sieht ihnen an, daß sie nicht von dieser Welt sind, vermutet der Freund aus Köln, daß sie in der Wirklichkeit stehen, gehen, reden oder was immer tun, aber ihr nicht angehören. Außerdem haben sie kein Fleisch. Der Freund kann sich keine dicken Gespenster vorstellen; also schon Dicke, die Gespenster sind, doch müssen sie dann abgemagert sein. Was sich über den Backen oder dem Bauch kräuselt, ist die alte, nun überflüssig gewordene Haut. Tiefe Augenhöhlen, große Pupillen, ätherische Erscheinung, so stellt er sich Gespenster vor, Kleidung, die zu groß geworden. Der Musiker war ohnedies schon so dürr. Jetzt hat er die Statur eines frühchristlichen Asketen, dazu die schwarze Kleidung, die nicht mehr modisch, sondern plötzlich morbide wirkt, der schwarze Hut, den er nicht absetzte, als sie sich an seinem Wohnzimmertisch in größtmöglicher Entfernung gegenübersetzten. So sieht kein Asket aus. So sieht ein Gespenst aus. Man tut normal und ist wenigstens ehrlich genug auszusprechen, daß nichts normal ist. Einem Veranstalter, der den Musiker auf Tournee schicken wollte und die Absage nicht verstand (»Flieg eben im Herbst oder meinetwegen im nächsten Jahr, wir geben dir eine Carte blanche«), hatte der Musiker gesagt: Du, ich bin in einen anderen Raum katapultiert worden. Ich habe nichts mehr zu tun mit dem, was war. Vielleicht kehre ich wieder, vielleicht nicht. Im Augenblick bin ich anderswo. Mehr als von weitem zu winken kann er nicht für ihn tun, befürchtet der Freund. An der Tür hing ein Bildnis der Gnädigen Frau aus friedlicher Zeit. Wie schön sie war, wie verführerisch die gewaltigen Augen, wie

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