Dein Name
sprach in höchsten Tönen von »dieser groÃen, unbedingten Liebe der letzten Wiener Jahre«. 4) In der Post lag gestern auÃerdem ein Brief von Karl Otto Hondrichs Witwe: »Wir bedanken uns für die groÃe Anteilnahme und Unterstützung, Briefe, Blumen und Kränze sowie die vielen Beweise persönlicher Verbundenheit.« Daneben handschriftlich: »Es war so unerwartet wie berührend, daà Sie in Karl Ottos letztem Jahr an seinem Leben/Sterben Teil hatten, und ich danke Ihnen, daà Sie für uns da waren.« Ob sie der Anteilnahme des Orientalisten aus Köln auch Glauben schenkte, wenn sie von dem Roman wüÃte, den ich schreibe? Er würde ihr gern sagen, daà er es noch nie so ehrlich meinte, aber um ein Ehrenwort zu geben, müÃte sie zuerst an ihm zweifeln. Ob er sich selbst Glauben schenkt? 5) Auf dem groÃen Flachbildschirm konnte man alles erkennen, dreidimensional und farbig das ganze Gesicht des Mädchens von tausendnochwas Länge oder hundert oder zehn, das ihre Geburt wahrscheinlich bereits überleben würde. Noch zwei Monate, dann würde man nicht mehr von einem Risikokind sprechen (die Gynäkologin gebrauchte ein anderes Wort, das dem Vater nicht mehr einfällt). Das half, das half wirklich, der erste Eindruck, der sich gegen München behauptete. 6) Vorgestern, Sonntag, ab dem Nachmittag der Nerv rechts neben dem Brustwirbel, den er diesmal mit der üblichen Dosis besänftigen konnte. â Ich habâs geahnt, sagte die Frau, als sie das Opiat in seiner Hand sah. 7) Der Sonntag vormittag mit der Tochter verschaffte ihm anders als sonst kaum Erleichterung. Sie waren im Museum, wo sein Text über die heilige Ursula schon nicht mehr zu hören ist. Auf dem Rückweg zeigte er der Tochter Ursulas Kirche. Die Goldene Kammer war geschlossen, obwohl sie dem Aushang zufolge geöffnet sein sollte. Sie vermuteten, daà der Wärter die Zeitumstellung vergessen hatte. 8) Nach Köln zurückgekehrt, blieb er in der Nacht zum Sonntag lange stumm. Später entzündete sich an den letzten Worten der Gnädigen Frau ein Streit: Besch begu âghel bescheh. Sag ihr, daà sie vernünftig werden soll. Agar âghel schewad, mâdarham mischeh . Wenn sie vernünftig wird, wird sie auch Mutter werden. Natürlich hat sie recht, beharrte er, ohne noch Mitgefühl übrig zu haben, vielleicht nicht in den Worten (daà sie überhaupt noch Worte gefunden hatte), aber in dem, was sie meinte. 9) Die Fahrt von München nach Köln erwähnte er bereits. Ankunft war schlieÃlich gegen halb zwei. Die Punkte 10), 11) und 0) verschiebt er einen weiteren Tag.
10) Der Musiker in München sah wie ein Gespenst aus. Wie sehen Gespenster aus? Man sieht ihnen an, daà sie nicht von dieser Welt sind, vermutet der Freund aus Köln, daà sie in der Wirklichkeit stehen, gehen, reden oder was immer tun, aber ihr nicht angehören. AuÃerdem haben sie kein Fleisch. Der Freund kann sich keine dicken Gespenster vorstellen; also schon Dicke, die Gespenster sind, doch müssen sie dann abgemagert sein. Was sich über den Backen oder dem Bauch kräuselt, ist die alte, nun überflüssig gewordene Haut. Tiefe Augenhöhlen, groÃe Pupillen, ätherische Erscheinung, so stellt er sich Gespenster vor, Kleidung, die zu groà geworden. Der Musiker war ohnedies schon so dürr. Jetzt hat er die Statur eines frühchristlichen Asketen, dazu die schwarze Kleidung, die nicht mehr modisch, sondern plötzlich morbide wirkt, der schwarze Hut, den er nicht absetzte, als sie sich an seinem Wohnzimmertisch in gröÃtmöglicher Entfernung gegenübersetzten. So sieht kein Asket aus. So sieht ein Gespenst aus. Man tut normal und ist wenigstens ehrlich genug auszusprechen, daà nichts normal ist. Einem Veranstalter, der den Musiker auf Tournee schicken wollte und die Absage nicht verstand (»Flieg eben im Herbst oder meinetwegen im nächsten Jahr, wir geben dir eine Carte blanche«), hatte der Musiker gesagt: Du, ich bin in einen anderen Raum katapultiert worden. Ich habe nichts mehr zu tun mit dem, was war. Vielleicht kehre ich wieder, vielleicht nicht. Im Augenblick bin ich anderswo. Mehr als von weitem zu winken kann er nicht für ihn tun, befürchtet der Freund. An der Tür hing ein Bildnis der Gnädigen Frau aus friedlicher Zeit. Wie schön sie war, wie verführerisch die gewaltigen Augen, wie
Weitere Kostenlose Bücher