Dein Name
Um so dankbarer müssen die Angehörigen und Freunde für die vergangene Woche sein, seit die Sterbende endlich richtig »eingestellt« ist. Manchmal sagte sie, daà sie glücklich sei, zutiefst glücklich, und manchmal stimmte es. Manchmal weinte sie dabei. Mit dem Musiker hat das Tier erst begonnen. Es hat sich in sein Fleisch gekrallt. Das sind so Vorstellungen, über die man bei Woody Allen lacht, der Sensenmann, Vater Tod, der Todesengel Azraâil, Vampire. Der Freund begreift jetzt, warum die Menschen sich den Tod so konkret vorstellen wie eine Person, die den Raum betritt. Genauso konkret kam es ihm vor â als ob jemand im Raum gestanden hätte, hinter ihrem Bett, um sie auf den Flur zu schieben und von dort nicht ins Aufenthaltszimmer. Die vierte und letzte Postkarte mit dem Photo eines Passagierflugzeugs, die er sich beim Einstieg aus der Ablage an der Flugzeugtür nahm, ist vollgekritzelt. Hoffentlich kann er die Schrift morgen überhaupt entziffern. Daà er die Sterbende zum letzten Mal sah, hält er für gewiÃ. Und Gott weià es besser.
Sie ist ins Koma gefallen. Manchmal öffnet sie für einen Blick die Lider, ohne jemanden zu erkennen (soweit sich das erkennen läÃt). Solange man es schon erwartet hat, trifft es einen doch unerwartet â Navid Kermani inmitten von Debatten mit der Frau, wann sie welches Küchengerät aus dem Bergischen Land, dem Büro und der Wohnung wohin bringen und anschlieÃen lassen. Zu Hause herrscht der Handwerker in weiÃer Latzhose zwischen Bad und Kinderzimmer, damit auch über den Flur, der mit Zeitungen ausgelegt ist; der Kontoauszug schreckt auf, weil vor sämtlichen Zahlen ein Minus zu stehen scheint; mit dem Studenten haben sie überprüft, welche regelmäÃigen Ausgaben zu streichen wären, das Bergische Land ja, Klavierunterricht nein, Büro nein, Gewerkschaft ja. Solche Dinge. Ein paar hundert Euro können sie monatlich einsparen, haben schlieÃlich nicht zuwenig Geld, sondern geben zuviel aus. Der alte Streit um den Trockner, den er immer noch nicht gekauft hat. Wie zur Rechtfertigung für seine Entscheidung, vorgeblich frei zu bleiben, druckte er den Roman aus, den ich schreibe, und schickte die zweihundert neuen Seiten an den Verleger. Der Brandartikel über die deutsche Verwicklung in den Krieg gegen den Terror, den eine andere Zeitung gestern druckte, hatte soviel Wirkung wie ein Steinwurf auf einen Panzer, was den Machtverhältnissen nicht nur in Kabul entspricht. »Im theater sind alle begeistert«, simste wenigstens die Direktrice. »Wovon? Meinem photo rechts unten?« »Nein. Von deiner bescheidenheit.« Der Kühler ist wieder leck, weshalb sie nicht ins Bergische Land fahren konnten. Das war der dreizehnte Tag nach Nouruz, bevor der Bildhauer aus München auf den Anrufbeantworter der Wohnung sprach, während der Freund in Köln vom Büro aus mit der Frau telefonierte. Der Freund konnte die Stimme von der anderen Leitung aus hören. â Vorher hatte ich das Gefühl, noch etwas tun zu können, sprach der Bildhauer auf den Anrufbeantworter. Ich konnte ihr ein Glas Wasser bringen. Jetzt kann ich nichts mehr tun. Der Freund wünschte an der anderen Leitung, er könne dem Bildhauer ein Glas Wasser bringen. Mit der Tochter muà er noch wie jedes Jahr am 13. das Sabzi in den Rhein werfen, den Teller mit Kresse, den alle iranischen Familien zum Neujahr säen. Das ist das vierte Mal, daà ich Sie abschleppe, knurrte der Mann vom Abschleppdienst heute morgen und zählte die Pannen auf. Er übertrieb. Sie hatten sich erst zum dritten Mal getroffen, einmal schleppte ein Kollege ab. Solange die Versicherung nicht knurrt, soll es beiden egal sein. Bitte nicht jetzt auch noch ein neues Auto suchen müssen, es dürfte ja nicht irgendeins sein, sondern mindestens so schön wie der groÃe Peugeot, dazu schadstoffarm, zuverlässig und ein Schnäppchen. Zeit wäre es, schlafen zu gehen, 1:15 Uhr oder 0:51 Uhr inzwischen, der 3. April 2007. In fünf Stunden muà er wach und dazu rasiert sein, da er im Frühstücksfernsehen wieder eine Meinung haben muÃ, zu was auch immer. »Wie sehen die Menschen das? Sind sie wirklich so aufgebracht?« lautet die erste der Fragen, die ihm die Redakteurin diktiert hat. Er jedenfalls ist es. Den Laptop hatte er bereits zugeklappt, als ihm einfiel, wie tief die Sterbende schläft. Die
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