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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Tochter wünscht ihr beim Gebet seit einigen Tagen nur noch einen schönen Tod.
    Er soll das Gebet am Grab sprechen. Die Sterbende habe es sich gewünscht, als sie noch sprach, teilt der Bildhauer in München mit. Navid Kermani hat keine Ahnung, was man am Grab betet, welche Rituale zu vollziehen sind, damit das Begräbnis schar’i wird, religiös rechtmäßig. Er weiß nicht einmal, ob sich die schiitische Zeremonie von der sunnitischen unterscheidet. Niemanden erreicht er, der sich auskennt. Auch die Eltern konnten keine genaue Auskunft geben; am Telefon hörte er, wie die Mutter den Angaben des Vaters, der den Hörer abgenommen hatte, laut widersprach. Das vollständige Ritual scheint zu aufwendig, als daß er es auf die Schnelle lernen könnte (und von wem?). Offen blieb, ob es nicht reicht, wenn der Leichnam Richtung Mekka liegt und am Grab der Koran zu hören ist. Die Fâtiha und das Qolhuwallâh hat er für die Sterbende gebetet, als er sich von ihr verabschiedete. Einige weitere Suren könnte er für die Beerdigung noch auswendig lernen, das do’â-ye mayyet hingegen, das Totengebet, sei sehr lang, sagte der Vater. Wenn Navid Kermani es sich schnell besorgt, kann er es üben. Aber er kann nicht den Mullah spielen. Er beherrscht die Gesten nicht, den Tonfall, die Abläufe, die Bewegungen, die Haltung – all das, was Tradition ausmacht. Wenn es keine islamischen Geistlichen gäbe in München, wäre es etwas anderes, dann zählte vor Gott das Bemühen, sind sich alle Rechtsschulen einig. Aber nur weil man die Mullahs nicht mag, kann man deren Wissen nicht einfach ignorieren, denkt Navid Kermani und kann gleichwohl den Wunsch der Sterbenden nicht ignorieren. Er hofft lediglich – das ist das wichtigste, wichtiger, als daß die Zeremonie gekonnt aussieht und seine Rezitation gut klingt – er hofft, daß es ihm gelingt, die Rechtmäßigkeit herzustellen. Nicht nur er, auch die Frau und der Vater hängen am Telefon und fragen jeden, der es wissen könnte, nach dem Wortlaut des Totengebets. Im Internet wird Navid Kermani nicht fündig. In zwei Stunden bricht er zu einer Lesung auf, danach ist schon Ostern und er mit dem Auto der Mutter im Bergischen Land.Der Peugeot ist auch tot: Zylinderkopfschaden. Er muß das Gebet und den Ablauf heute noch besorgen, damit er das rechtlich Notwendige im Zug auswendig lernen kann. Die Frau kann ihn im Bergischen Land abfragen. Am 10. April treffen die Schwestern der Sterbenden ein, also ist die Beerdigung frühestens am 11. Heute ist der 5. Wenn es ein einziges Gebet ist und er es heute noch besorgt, kann er es schaffen, gleich, wie lang es ist. Er hätte etwas zu tun. Die Worte, die er lernen würde, wären die richtigen, in Jahrhunderten erprobt, rechtlich gesichert. Er könnte noch rasch beim türkischen Imam von Ehrenfeld vorbeiradeln, der wieder großen Ärger hat, weil in der Moscheebuchhandlung ein Buch gefunden wurde, das die Prügelstrafe befürwortet. Immerhin, der Oberbürgermeister steht weiter zum Neubau der Moschee, sagt die Frau, die den Imam soeben erreicht hat. Der Imam habe versprochen, das Gebet zu faxen. Ein Geschenk muß Navid Kermani außerdem noch besorgen, weil er nach der Lesung auf einem Geburtstag eingeladen ist. Vorher ruft er den Imam selbst an, um sicherzugehen, daß das Fax rechtzeitig eintrifft. Der Imam bietet an, das Totengebet mit dem Freund zu üben, wegen des Prophetengeburtstages sei er über Ostern in der Moschee, die noch eine Fabrikhalle ist. Der Imam ist sehr ernsthaft, sehr freundlich, wundert sich nur wenig und stimmt zu, daß die Rechtmäßigkeit unbedingt herzustellen sei. Es ist nicht zuviel verlangt, in Köln einen Ort zu haben, an den Muslime sich wenden, wenn ein Angehöriger stirbt, wo sie erhobenen Hauptes beten können. Auf den Buchhändler wird der Imam künftig achten und das Fax so Gott will leserlich sein. Eine Kopie wäre bei all den Punkten und Strichen des arabischen Alphabets sicherer zu entziffern, doch ist es zu spät geworden, um nach Ehrenfeld zu radeln. Es ist 14:37 Uhr auf dem Telefon, auf dem die Uhr genauer ist als auf dem Handy, dem Laptop und dem Wecker, wie Navid Kermani inzwischen herausgefunden hat. Um 16:55 Uhr geht sein Flug – ach, verdammt, er fliegt ja und nimmt gar nicht den Zug. Wann lernt er also das Gebet auswendig, das so Gott will leserlich sein wird?

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