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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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anderen Liebespaar sagen könnte. Nasrin hatte noch nicht zu Ende gelebt.
    Die Chemotherapien ertrug sie – Einbrüche eingeschlossen, Bewußtseinstrübungen, Wehklagen, Tiraden, die anfängliche Scham, keine Haare mehr zu haben und auch im Gesicht, am Körper unverkennbar alt und gebrechlich geworden zu sein –, aber seelisch beinah zugrunde gerichtet hätte sie das Wechselbad, dem sie danach ausgesetzt war. In den ersten Untersuchungsergebnissen und Röntgenbilder schienen alle Gebete erhört worden zu sein. Die Ärzte empfahlen weitere Behandlungen, doch schien der Tumor so weit zurückgedrängt worden zu sein, daß noch mit vielen Abenden an ihrem Tisch zu rechnen war. Welche Pläne man plötzlich hat! Einige Tage später waren alle Pläne durchkreuzt. Erst setzten Rückenschmerzen ein, die kein Arzt betäuben, geschweige denn behandeln konnte. Dann die Diagnose: die Knochen voller Metastasen, keine Aussicht auf Rettung.
    Einmal fragte sie in ihrem Zimmer auf der Palliativstation, was das wichtigste im Leben sei. Ihr Mann war anwesend, ihr Sohn, ihre Tochter, ich. Stille war eingekehrt, als Nasrin ihre Frage stellte, eine erschöpfte, zerschlagene Stille. Ich weiß nicht mehr, wer eine Antwort versuchte. Ich weiß nur, was ich dachte: Das, was Sie jetzt haben, Nasrin Chânum, ist das wichtigste im Leben, diese Gemeinschaft von Menschen, die Sie gestiftet, dieser Mann, diese Kinder, die seit vielen Monaten ihren Alltag aufgegeben haben, die für Sie da sind, so wie Sie für sie dasein würden und da waren – weil ihr euch liebt, weil ihr in der Pflicht füreinander steht. Mit solchem Beistand zu sterben ist die einzige Gnade vor dem Tod, die kein Mensch grundlos empfängt.
    Etwa zehn Tage, bevor sie starb, trat die Wendung ein, durch die Versöhnung zwar nicht hergestellt, aber denen, die sie begleiteten, auf lange Sicht überhaupt ermöglicht werden könnte. Sie selbst hatte sich versöhnt mit dem Tod. Sie hatte Frieden gefunden, wie sie sagte. Der Schmerz, den sie empfand, galt nicht mehr dem, was noch hätte sein können, sondern allem, was war. Es war ein Schmerz, der das Glück in sich trug, ein Schmerz, in dem sich Wehmut und Dankbarkeit nicht mehr voneinander unterschieden.
    Der Sohn, der als letzter bei ihr sein sollte, teilte soviel mit, daß sie in vollständiger Ruhe starb. Sie habe ein âh ausgeschüttet, einen langen Seufzer, der ihm den Übergang angekündigt habe. Ihm sei klar gewesen, daß er sie nicht festhalten, nicht einmal an der Hand halten durfte. Der Seufzer habe gleichzeitig etwas Klagendes und etwas unsagbar Befreites gehabt, eine Qualität absoluter, auf Erden unerhörter Loslösung. Er habe Bände gesprochen, der Seufzer, und sei zugleich die Aufforderung, nein Anweisung, gewesen, im Atem miteinander zu sprechen, ihr âh zu befragen, ihrem âh eine Bestimmung zu geben. Während er ihre Gegenwart in wortloser Rede und Antwort teilte, habe sich ihre Mikromimik vollständig entspannt, die unzähligen Muskelchen, die dem menschlichen Gesicht einen Ausdruck verleihen. So umfassend habe sie losgelassen, daß ihr Gesicht jünger und jünger geworden sei oder eigentlich zeitlos. So weit sei die Verwandlung gegangen, daß er sie in ihren letzten Atemzügen kaum noch erkannt habe. Für die Unendlichkeit, die ihr am Ende zuteil wurde, brauchen andere Sucher Jahre oder Jahrzehnte. Noch einmal setzte der Sohn den bestimmten Artikel. Für vier, fünf Sekunden hatte er den Eindruck, daß Nasrin durch die oft beschriebene Enge mußte. Der nächste Seufzer folgte in einer anderen Welt.
    Unsere zweite Tochter soll ebenfalls den Namen Nasrin tragen: Rose. Ihr und der Älteren hat Nasrin ein Grundstück am See von Rezaye in Aserbaidschan vererbt. Daß es ihr noch gelang, den einseitigen Brief mit eigener Hand, in klarer Schrift zu schreiben, erschien allen nur als Wunder erklärlich. Meiner Frau, deren Bindung an Iran sich zu meiner Enttäuschung in den letzten Jahren gelöst hat (war es doch zugleich eine Loslösung von mir), gab sie den Auftrag, zu dem Grundstück zu reisen, die Kinder im See zu baden und herauszufinden, wie der Ort früher hieß und weshalb. Mich hat sie dafür vorgesehen, bei der Beerdigung das Gebet zu sagen. So trägt Nasrin Chânum über den Tod hinaus zum Erhalt unserer Ehe bei, um die sie sich sorgte – hatte ich

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