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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Enzensberger gelandet zu sein, nicht weil ich etwas gegen Enzensberger gehabt hätte, sondern weil ich den Feierabend in meiner eigenen Verwandtschaft beging, so kam es mir vor, bei meinem älteren Vetter, der vielleicht nicht so berühmt und brillant wie Enzensberger war, aber dafür ohne allen Arg, mit Augen, die Anteil nahmen und nicht justierten.
    Wenn ich das so schreibe, muß das wirken, als hätten wir uns gut gekannt. Das stimmt nicht. Häufig sind wir uns gar nicht begegnet, ein- oder zweimal bei ihm zu Hause, hier und dort auf Empfängen des Kollegs, dazu die eine oder andere Mail, die wir austauschten, zwei Podien nach dem 11. September. Aber ich habe ihm von vornherein vertraut. Das kann nicht nur mir so gegangen sein. Es lag in seinem Wesen, daß man ihm vertraute. Ich wette, seine Frau oder seine Studenten würden das bestätigen. Noch immer bleibe ich oft an seiner Mail-Adresse hängen, wenn ich das Adreßverzeichnis meines Computers durchsehe, an [email protected], und wenn ich am Kolleg bin, nehme ich mir jedesmal vor, ihn zu besuchen. Luftlinie sind es nur hundert Meter.
    Â 
    Schon Schluß? Das Vorhaben, die Toten ungeachtet seiner Beziehung zu ihnen ungefähr gleich zu behandeln – um die neuntausend Anschläge, die Beschränkung auf einzelne, eigene Erlebnisse, dieselbe Tonlage –, läßt sich nicht durchhalten. War es schon mühsam, genügend Momente von Claudia Fenner und Friedrich Niewöhner zusammenzutragen, ist das Gedächtnis für Georg Elwert unmöglich auf die vorgesehene Länge zu bringen und auch vom Gesagten her läppisch. Führe Navid Kermani fort, liefe das Kapitel auf eine Sammelrezension einiger ethnologischer Bücher und Aufsätze hinaus. Es ist schwierig, wenn er den Verstorbenen bei aller Sympathie kaum kannte. Er müßte dann auf sekundäres Material zurückgreifen, Bücher, Photos, Angaben von Angehörigen, oder sich beschränken. Ohnehin ist es beschämend, wie wenig ihm einfällt, bei Taglicht betrachtet nur Äußerliches, wie selten er hinsah. Nicht einmal die Physiognomie stünde ihm deutlich vor Augen, wenn er sich nicht die Photos besorgt hätte. Hinzu kommt, daß sich die Emotionen in der Wiederholung verbrauchen. Spätestens das Gedächtnis für Georg Elwert kippt in die Rührseligkeit; das Fazit kann nicht jedesmal sein, daß da noch so viel gewesen wäre. Andererseits sind hagiographische Sammlungen eben so, daß sie verklären und sich wiederholen. Gegen dieses Argument spricht wiederum, daß Navid Kermani alle Namen nennen möchte, die ihm auf Erden etwas bedeuteten, nicht nur die ihm fehlen. Insofern ist dies keine Chronik der Heiligen. Djavad Ketabi wird sich in die bisherige Reihe nicht logisch einfügen, und György Ligeti, den Navid Kermani eine Zeitlang sehr oft traf, aber meistens nur flüchtig, muß dem Roman, den ich schreibe, eine weitere Wendung geben. Wie mit Georg Elwert darf es nicht weitergehen, aber korrigieren, nachträglich verbessern darf er die Kapitel auch nicht, bildet sich Navid Kermani ein, und schon gar keinen Namen löschen, der poetologisch falsch oder richtig nun einmal bedacht wurde. Die älteren Nichten stören am Dienstag, dem 18. Juli 2006, um 18:54 Uhr mit ihrer Popmusik am Schwimmbad. Er hebt sich den Einspruch des Erwachsenen für den morgigen Tag auf und geht statt dessen zum Schwimmen hundert oder zweihundert Höhenmeter hinunter ans Meer. Die Frau ist weiter weg als bei der Heiligen Margarete. Vielleicht weil es für immer sein könnte, vermißt er sie: daß wir mit einemmal niemanden mehr haben, dessen Stimme wir am Ende des Tages noch hören, den wir anrufen könnten, auch wenn wir es aus Wut, Enttäuschung oder Desinteresse nicht tun. Noch mehr als die Frau beschäftigt ihn die Leere, die sie hinterläßt. Das Handy trägt er selbst in Badehose mit sich herum, als erwarte er einen Anruf.
    Der Korrespondent, der in Beirut mit fünfundzwanzig Interviews pro Tag eine noch höhere Schlagzahl erreicht, erwischte den Kollegen aus Köln, als dieser in Spanien am Grill stand. Die Bomben würden nach Konfession verteilt, am wenigsten auf die christlichen Viertel, mehr schon auf die Sunniten, am meisten auf die Schiiten, erklärte der Korrespondent, ohne daß die Lammkoteletts deswegen verbrannten. Wie lange noch? In einer Woche fliegt der Korrespondent

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