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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Absätze des Rests, findet der Enkel sein Bild des Großvaters auf unheimliche Weise bestätigt; sei es in den regelmäßig eingeflochtenen Koranversen und Lebenslehren, sei es im gravitätischen, ja stocksteifen Gestus, mit dem der Großvater erzählt, sei es in der Auswahl dessen, was dem Großvater wert schien, festgehalten zu werden. So schildert er, wie er als Student die »Trauer und Wut« seines Vaters hervorrief, als er nach langer Abwesenheit dessen Hand küssen wollte, wie es Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts vollkommen üblich gewesen sein muß. – Kein Gott außer Gott, zürnte der Urgroßvater und verbat sich den Handkuß. Es paßt zum Großvater, daß er gerade diese Episode seiner Jugend hervorhebt. Bei allem Respekt, den die Enkel ihm entgegenbrachten, wäre es ihnen nie eingefallen, ihm die Hand zu küssen, obwohl die Geste in den siebziger Jahren noch keineswegs ungewöhnlich war. Der Großvater hätte sich mehr als nur geärgert, der Handkuß hätte ihn enttäuscht, er wäre vor allem von sich enttäuscht gewesen, die Gottesfurcht nicht seinen Kindern und Kindeskindern vermittelt zu haben, wie sein Vater sie ihm vermittelt hatte. Den Makel suchte er immer erst bei sich, bezeichnend deshalb der Koranvers, mit dem er die Selberlebensbeschreibung beschließt – denn natürlich beschließt er sie mit dem Koran, wie der Enkel sich beim Vorblättern versicherte: »O ihr, die ihr glaubt, bleibt fest in der Gerechtigkeit, so ihr Zeugnis ablegt zu Gott, und sei es auch wider euch selber oder eure Eltern und Verwandten, mag einer arm sein oder reich, denn Gott ist nahe beiden.« Genau das ist er, Bâbâdjundjun , wie ihn selbst die Erwachsenen anredeten, Papaseelchenseelchen mit dem doppelten Diminutiv, in dieser letzten Entscheidung – und er tat sich schwer mit Entscheidungen –, gerade Sure 4,135 an den Schluß zu setzen, seid gerecht, auch wenn es zu eurem eigenen Nachteil ist, selbst wenn es zum Nachteil eurer Eltern ist, eurer Verwandten, macht nie einen Unterschied zwischen reich und arm, überhaupt zwischen den Menschen – bemüht euch am meisten um Gerechtigkeit. So einer war für die Mitmenschen nicht nur angenehm, sondern auch ein Prinzipienreiter, den das Auge noch lange juckte, das er als Vater, insbesondere als Vater von drei vorlauten, kecken Mädchen, hin und wieder zudrücken mußte. Wenn die Enkel jemanden zum Tollen suchten, für Albernheiten – und andere Onkel oder Großtanten der Verwandtschaft standen meistens bereit –, mußten sie bei ihm gar nicht erst anklopfen. Undenkbar der Satz: Großvater, erzähl uns mal einen Witz! So war er nun einmal, nein, so wirkte der Großvater auf den Enkel aus Deutschland – was weiß der Enkel denn, wie der Großvater war, schon gar in jungen Jahren? –, und so verehrten sie ihn mitsamt seiner Humorlosigkeit, achteten seine Ansprüche, da er selbst sich an ihnen maß. Eben weil sich in jeder Zeile, die der Enkel im folgenden liest, der Großvater genau so zeigt, wie er ihn zu kennen meinte oder sich ausgemalt hatte, irritiert ihn die Widmung, zumal in ihrem beinah schwärmerischen Ton. Daß der Großvater selbst jemanden verehrte, damit hat der Enkel nicht gerechnet. Die Tochter simst um 14:13 Uhr vom Strand aus, daß der vereinbarte Ausflug klappt, die Kajaks bereitstehen und er sofort zum Strand herunterkommen soll, im Rucksack Äpfel und Wasser. Das erspart ihm Gott sei gepriesen den ursprünglich zugesagten Freizeitpark, der den Verlauf des Lebens auf ungefähr zweihundert Wasserrutschen simuliert.
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    Georg Elwert (1. Juni 1947 München; 31. März 2005 Berlin) ( Bildnachweis )
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    Der frühere Rektor des Berliner Wissenschaftskollegs erwähnte in einer Mail, daß der Ethnologe Georg Elwert, der hundert Meter Luftlinie vom Kolleg entfernt wohnte, wegen eines Tumors vermutlich nicht mehr lange zu leben habe. Ich nahm mir vor, Elwert zu mailen oder, besser noch, ihn zu besuchen, und tat es nicht. Mir fielen die Worte nicht ein, die ich hätte sagen können. Ich denke an Sie? Melden Sie sich, wenn ich was tun kann? Ich finde es ebenso scheiße, daß Sie sterben?
    Wenn Hoffnung ist, kann man Wünsche äußern. Aber so, wie die Mail sich las, war die Angelegenheit entschieden. Über die Umstände der Krankheit fragte ich den früheren Rektor

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