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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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tun. Oft ist zunächst unklar, ob dieser oder jener so nah war, daß man Zeugnis ablegen kann. Manchmal ist man selbst überrascht über seine Gefühle oder daß sie ausbleiben. Im Unterschied zu allen anderen Hinterbliebenen, bei denen sich die Trauer einstellt oder nicht, muß der Jüngste sich jedesmal entscheiden. Er muß entscheiden, ob dieser oder jener einen Namen erhält, so womöglich im nächstes Kapitel der Entführte. In Frieden hat er sich eine professionelle Abgebrühtheit angeeignet, wie er sie ähnlich von seinen Reisen kennt, die kühle Beurteilung der eigenen Zuständigkeit, in deren Konsequenz er alles ignoriert, was nicht auf seinem Friedhof ruhen wird. Zum Beispiel brachte sich am Tag, an dem die Frühgeborene zur Welt kam, in Wien eine Dramaturgin um, die ihn ein paarmal zu Veranstaltungen eingeladen hatte. So sympathisch sie ihm war, so gut es dramaturgisch gepaßt hätte, ausgerechnet an diesem Tag dem Leben das nächste Kapitel hinzuzufügen, entschied er sich dagegen, sie auch nur zu erwähnen. Einen Tod nur im Vorübergehen zu vermerken, ist In Frieden nicht der Ort, und um ihrer zu gedenken, hätte er von den Nachrufen abschreiben müssen, die in den Feuilletons standen. Der Entführte stand näher und wäre einer von den Grenzfällen. Ohnehin ist er nicht entführt worden, wie die Frau um 15:03 Uhr glücklich ruft. Der Entführte sei ein Däne. Auf einen Schlag verwandelt sich der Vorfall in eine von vielen Agenturmeldungen eines Tages, die keine Zehntelsekunde aufhalten. Daß man seinen Nächsten lieben soll, bedeutet schließlich, daß alle Übrigen einen nicht zu bekümmern brauchen, und wäre ohne die listige Erläuterung »wie dich selbst« ein Allgemeinplatz. Wen sonst soll man lieben als die Nächsten, die ein sehr überschaubarer Kreis sind. Der alte Herr, der neben dem Vater aus der Narkose erwachte, war keine zwei Meter entfernt schon nicht mehr nah genug. Noch im Zimmer registrierte der Sohn die Grenze seiner Besorgnis, die genau zwischen den beiden Betten entlanglief. Was jenseits der Grenze geschah, betraf ihn sowenig wie die Entführung eines Dänen in Afghanistan durch die Taliban, an die man ohnehin nicht appellieren kann.
    Neben dem Vater liegt schon der dritte Patient, der aus der Narkose erwachte, ohne sonderlich schockiert zu wirken. Nur den Vater hat die Nacht verwandelt, ja, umnachtet, wie Mystiker in der Gottesschau zu Narren werden, nur daß er wohl nicht an der Liebe irre wurde, sondern am Schrecken: »Und vieles / Wie auf den Schultern eine / Last von Scheitern ist / Zu behalten. / Aber bös sind / Die Pfade, Nemlich unrecht«, heißt es in »Mnemosyne«, deutsch »Die Erinnerung«, das zu den letzten Gedichten gehört, von dem Hölderlin eine Reinschrift anfertigte, bevor ihn die Mutter nach Tübingen verfrachten ließ. Ständig redet der Sohn von Engeln, es mag ja nerven, die für ihn keine Wesen mit Flügeln sind, nichts Außerirdisches, vielmehr Menschen im Übergang. Aber nicht nur das: Er glaubt auch an Gespenster, sieht schon das zweite in nicht einmal einem Vierteljahr, Wesen aus demselben Transitbereich wie die Frühgeborene und Nasrin Azarba, jedoch mit anderen Beobachtungen. Er konnte dem Vater einige Löffel Joghurt in den Mund führen, die erste Nahrung seit der Neugeburt, die nicht in den Magen gepumpt wurde. Trotz seiner gestischen Beteuerungen, daß es ihm nicht gutgehe, freuen sich die Angehörigen über den Fortschritt und versuchen, den Vater ein ums andere Mal zu beruhigen, daß es schon werde. Erst als er mit ihm allein ist, der Ophthalmologe und die Mutter auf eine Zigarette, begreift der Jüngste, daß der Vater einer anderen Wirklichkeit angehört als der Tour de France, die wenigstens lautlos im Fernseher läuft. Mâschin ist das erste Wort, das der Jüngste nach langem Raten richtig tippt, auf deutsch: Auto. Zunächst denkt der Jüngste, daß der Vater die Apparate meint, die Maschinen , an die er angeschlossen ist, und weist mit dem Finger der Reihe nach auf die Geräte rings um das Bett, nicht daß einer der Schläuche den Vater quält oder eine der Anzeigen ihn beunruhigt, der schließlich selbst Mediziner ist. Aus weiteren Lauten, mehr gegrunzt als artikuliert, setzt sich allmählich eine Bedeutung zusammen, die der Vater durch Kopfnicken bestätigt,

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