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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Dreiviertelstunde fernsehen, Tierpfleger im Zoo.
    Auf der Fahrt zum Flughafen erinnert ihn die Kassette, die im Handschuhfach lag, daß auch Nikki Sudden im vergangenen Jahr starb. Es ist eine Radiosendung, die Navid Kermani Anfang der neunziger Jahre Woche für Woche mit den Fingern auf den Aufnahmetasten verfolgte. Die Kassette muß er im Auto der Mutter vergessen haben, das später zum Ferienauto wurde. Schon damals wußte er nicht, von wem die melancholische Coverversion von »Like a Rolling Stone« stammt, die er in seinem Erstauto hundertfach an den Anfang spulte. Danach piepsen eine halbe Sekunde lang die Nachrichten – zu spät auf stop oder zu früh auf play gedrückt, bevor Nikki Sudden »Captain Kennedy« covert und Navid Kermani ein Kriterium einfällt, das praktikabel sein könnte und überdies den Nachteil jener Idole berücksichtigt, Schauspieler, Sänger oder Instrumentalisten, deren Werk nicht eigentlich reproduzierbar ist: Er muß die Menschen selbst getroffen haben, die verstorben sind. Aber das ist Unsinn, geht ihm schon zu Beginn der zweiten Strophe auf, man trifft so viele Menschen. Vielleicht könnte er vorläufig den Begriff des Martyriums verwenden: Die Verstorbenen müssen für ihn Zeugnis abgelegt haben, und sei es nur für die Verteidigung im dritten Nebenverfahren, einem Verkehrsdelikt, einer Ordnungswidrigkeit oder ähnlichem. Also György Ligeti noch und Nikki Sudden.
    Die Frau macht einen gefestigten Eindruck, als er sie in der Schlange vor dem Check-in anruft. Daß sie die Fassade neu errichtet, hält er am Freitag, dem 21. Juli 2006, um 11:18 Uhr für einen Fortschritt. Er soll den Kopf nicht hängen lassen, sagt sie; wenn sie rauskomme, werde vieles anders. Sie sagt auch, daß sie ihn liebt. Er vermutet therapeutische Gründe.
    Daß er sich nachts mit Himmelswesen wie FrAndrea33 herumtreibt, würde er auf dem Fragebogen der Heiligen Margarete, den er am Montag, dem 24. Juli 2006, um 11:34 Uhr in der Wohnung ausfüllt, unter Freizeitgestaltung vermerken, wenn er nicht ausschließlich »stimmt« oder »stimmt nicht« ankreuzen dürfte: Es stimmt nicht, daß er mindestens einmal die Woche eine kulturelle Veranstaltung besucht. Es stimmt nicht, daß er mindestens zweimal die Woche Sport treibt. Schon weil der Tod so weich zeichnet, daß die Erinnerung den Eindruck hervorruft, es gäbe nur Menschen, um die es schade ist, fügt er dem Roman, den ich schreibe, sein trübseliges Leben hinzu. Interessant würde es, wenn jemand stirbt, den der Romanschreiber nicht ausstehen kann, doch erfüllen die Kandidaten aus Politik und Wirtschaft nicht das Kriterium der Nähe und könnten sie, wäre zu befürchten, bei intimerer Kenntnis ihre Beweggründe plausibel machen oder sich gar als zuvorkommend erweisen. Aus seiner Umgebung fällt ihm niemand ein, der unsympathisch wäre, im besten Fall gleichgültig, so daß er nicht zählt. Selbst Kriegsgebiete, über die er berichtete, schienen von hilfsbereiten, friedliebenden Menschen bevölkert, obwohl es objektiv nicht stimmen kann. Soll er sich etwa in Gefängnissen umtun? Stirbt bald jemand, an den er keine gute Erinnerung hat, könnte er das Hagiographische noch rechtzeitig korrigieren und dem Unangenehmen, dem Ärgerlichen, dem Verletzenden wenigstens ein symbolisches Kapitel einräumen. Wenn zum Beispiel der Theaterleiter stirbt, der ihn wegen Aufmüpfigkeit aus der Regieklasse warf, der eine oder andere Lehrer des Gymnasiums, aus dem er verwiesen wurde, oder auch nur der liebenswerte Kollege, der in einer harmlosen Situation um so schmerzlicher enttäuschte, würde er – ach was!, wahrscheinlich würde der Roman, den ich schreibe, selbst dann in Formulierungen ausweichen, die den Zwist auf eine Ebene menschlicher Verständigungsprobleme heben und also in Luft auflösen. Der Romanschreiber könnte sich gegen die Aura des Todes wappnen, indem er bereits von den Lebenden alles Schlechte notiert, das ihm auffällt. Jetzt schon hat das Vorhaben eine Wirkung, die ihn ängstigt: Wo er hinsieht, künftige Kapitel. Er unterhält sich am Telefon mit einem Redakteur und überlegt, ob dieser im Roman, den ich schreibe, auch einen Namen erhalten wird. Zumal die Eltern beobachtete er mit anderen Augen, als er sie am Golf von Rosas besuchte. Er turtelt mit einer neuen Nachbarin und hofft, das Archiv zu

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