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Er wird nur das erwähnt haben, was ihm mitteilenswert erschien für jene »allgemeine Leserschaft«, an die er sich wandte. Bestimmt nahm er selbst die Selberlebensbeschreibung so ernst wie alles im Leben und enttäuschte es ihn, daà sie nie veröffentlicht wurde. Seit die Tante die fünf, sechs himmelblauen Hefte verteilte, hat der Enkel nie wieder jemanden davon sprechen hören. Die Mutter und Tanten werden sie gelesen haben, vielleicht noch der eine oder andere der Freunde und Weggefährten, der längst tot sein dürfte. Eine Generation weiter hat allenfalls der Cousin, der als einziger von fünfzehn Enkeln in Iran geblieben ist, einen Blick in das Heft geworfen. Fünf, sechs Regale höchstens, in denen die Selberlebensbeschreibung all die Jahre stand, fünf, sechs Flächen von 1,1 mal 20,8 Zentimetern, die staubfrei blieben, mehr nicht, mehr ist vom Leben seines GroÃvaters nicht geblieben. Es ist Montag, der 25. Juli 2006, 22:59 Uhr auf dem Telefon, 23:04 Uhr auf dem Handy, 23:01 Uhr auf dem Laptop, dessen Uhr am genauesten sein müÃte, der Enkel im Wohnzimmer, die Frau in St. Margarete, die Tochter im Bett. Sosehr ihn der botmäÃige Ton der Widmung irritierte, in einem der sechs Sätze erkannte der Enkel den GroÃvater doch wieder: »Soweit ich es beurteilen kann, hatte und hat er kein Ziel auÃer dem, die Menschen auf den Königsweg der wahren Menschlichkeit zu leiten.« In dem Vorbehalt, mit dem der GroÃvater den Satz anfängt, brachte er nicht Skepsis gegenüber Hossein Ali Rasched zum Ausdruck, sondern die Skepsis gegenüber der eigenen Urteilskraft, die Skepsis gegenüber allen Urteilen, insofern sie menschlich sind. Auf dem Schreibtisch liegt ein Photo in SchwarzweiÃ, auf dem die GroÃmutter zu sehen ist, das weiÃe Kopftuch mit den roten Blümchen so, wie sie es immer schon trug, nicht wie es die Islamische Republik später verordnete, sondern wie eine Pariserin, als die sie sich im Herzen fühlte (der Enkel ist sicher, daà GroÃvater ausführlich von der Reise nach Frankreich berichten wird). Den linken Arm über seine Schultern gelegt, ihn umarmend also, lacht sie so herzhaft in die Kamera, daà die obere Zahnreihe bis hinter die Schneidezähne zu sehen ist. Der GroÃvater hingegen lächelt, etwas scheu in seinem dicken Filzmantel, den er zu Hause stets über dem Pyjama trug, mit letzter, unaufgebbarer Skepsis, aber bejahend, was oder wem auch immer zustimmend, wahrscheinlich der Zärtlichkeit seiner Frau, zufrieden, wie er es selten war, lächelt er am Objektiv vorbei in den Himmel, ins Licht, wie an den Schatten zu erkennen.
Zum ersten Mal seit dem Studium, ach was, mehr oder weniger seit er nicht mehr allein wohnt, hat der Romanschreiber ein Klo geputzt. Er war in seinem Herzen nie Sozialist, insofern er sich bereits im ersten Semester mit einer Welt abfand, in der Menschen putzen und andere dafür zahlen. Ihm leuchtete es nicht ein, warum alle gleich seien oder sein sollten. Ohne eine Spur schlechten Gewissens, das in seinen ökologisch orientierten Kreisen verbreitet war, leistete er sich bereits als Student eine Putzfrau, zwar nicht in Deutschland, eine Frage immer schon des Geldes, nicht der Gesinnung, aber in Kairo, wo das Gewissen selbst gutmeinender Westler innerhalb einer Woche kolonial verwässert. Nicht nur sein Sozialismus, auch sein Bekenntnis zur Emanzipation hielte keiner Inquisition statt. Aber soviel Staub und Schmutz er gemeinhin erträgt, muà er nach der Ankunft im Bergischen Land dennoch das Bad und die Küche putzen, die Spinnenweben entfernen, die Brennessel im Eingang ausrupfen und die Reben vor den Fenstern abschneiden. Die Tochter fegt und wischt den Boden. Beiden wird der 25. Juli 2006 unvergeÃlich sein. Morgen bringt er sie zu den Nichten nach Siegen, spielt in der Mannschaft des Internisten noch FuÃball, iÃt beim ältesten Bruder, dessen Fachgebiet die Orthopädie ist, zu Abend und besucht die Eltern, bevor er ins Bergische Land zurückkehrt, wo er zum ersten Mal mehr als nur stundenweise allein sein wird, seit seine Frau zusammengebrochen ist und mit ihr die Welt seiner Erscheinungen. Zwei Tage müssen reichen, um der beiden Toten zu gedenken, die noch übrig sind. Obwohl der Beauftragte der Vereinten Nationen beim Anblick der Zerstörungen schockiert war, wie die Zeitung vermerkt, hat der Romanschreiber noch immer keine Mail an den
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