Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
Vom Netzwerk:
Barcelona sein, und die Lokalzeitung, die im St. Marien ausliegt,berichtet von der Eröffnung des Stadttheaters, bei der die Schauspieler leider nicht immer verständlich sprachen, wie die Rezensentin, die auch die Photos gemacht hat, auf zwei von sechs Absätzen beklagt. Die Inszenierung selbst sei eine gelungene Mischung aus konventionellem und modernem Theater. Durch mehrere Tunnel hindurch und über haushohe Autobahnkreuze hinweg, die sie auf und ab aus Siegen hinaus- und wieder hineinfahren, erreichen die Brüder nach zwanzig, fünfundzwanzig Minuten die Straße hinterm Bahnhof, wo weit und breit keine Kneipe mehr steht. Es stehen überhaupt keine Häuser mehr, nur die Betonpfeiler der Autobahn und ihrer Auffahrten. Was früher eine Gasse war, geht nach einigen Metern in eine dunkle, asphaltierte Fläche über, Parkplätze vielleicht, wenngleich keine Autos zu sehen sind. Die gleiten mit hundertzwanzig über ihre Köpfe. Der Jüngste hat mit allem gerechnet, mit einer Ruine, mit neuen Besitzern, mit Autohof, Drive-Ins und Erotik-Megastore, nur nicht damit: mit nichts. Nostalgie hin oder her, so brachial möchte man seine Vergangenheit nicht abgeschlossen sehen. Arme Kneipe, beginnt er sie jetzt doch zu verklären, du warst nichts Besonderes, hattest kein Geheimnis, wolltest ein bißchen Großstadt in der Kleinstadt sein. Jetzt will die Kleinstadt selbst Großstadt sein und hat keinen Platz mehr für dich. Nicht gedacht soll deiner werden. Die Brüder fahren weiter in die Kneipe hinter der Stahlverarbeitung, wo er anfangs hinging, früher nur ein Katzensprung entfernt, zu Fuß zehn Minuten. Jetzt liegt die Verkehrsgerechtigkeit dazwischen. Sogar der Orthopäde verliert die Orientierung, der ein Siegener geblieben ist.
    Mit Dreizehn begann der Jüngste, den Schülern aus der Oberstufe, zu denen er sich in den Schulpausen stellte, auch in die Kneipe hinter der Stahlverarbeitung zu folgen. Die Eltern merkten nicht, daß er abends aus dem Haus schlich, bis die Mutter eines Mittags heulend vom Elternsprechtag zurückkehrte: Der Lehrer sagt, daß du jeden Abend in so einem Lokal rumhängst, einem ganz verdorbenen Ort, wo die Leute Haschisch rauchen und die Füße auf den Tisch legen. An die Füße und den Haschisch erinnert sich der Jüngste genau, weil die Mutter nicht über dieses Bild hinwegkam: haschischrauchend die Füße auf dem Tisch, und mit auf dem Sofa ihr vierzehnjähriger Sohn. Dem Vater erzählte sie nichts davon, weil sie dem Jüngsten noch ein letztes Mal vertrauen wollte, der sich mehr über die Böswilligkeit der älteren Mitschüler ärgerte, die ihn verpfiffen hatten, als sich über die Tränen der Mutter zu grämen. Heute gesteht er zu, daß die Mitschüler Gründe hatten, über einen Vierzehnjährigen zu sprechen, der seine Abende in der Kneipe verbrachte, und eine Mutter, zumal eine muslimische Mutter, Gründe für ihre Tränen. Mit fünfzehn lernte er eine Krankenschwester kennen, die abends ihr Abitur nachholte und ihn Like a Hurricane nachts so gründlich durcheinanderwirbelte, daß er nicht nur musikalisch auf die Spur geriet, die für ihn richtig ist. Als er Sonntag mittags das Haus verließ, in dem sie mit Freunden wild wie Woodstock lebte – und das in Siegen! –, versuchte er dem Grimm zu trotzen, mit dem ihr Vater auf dem Bürgersteig lauerte. Der Jüngste sah allerdings auch wüst aus, die Frisur nach dem Modell Jimmy Hendrix, dazu das Alter, nicht wie fünfzehn, aber trotz Flaumbart bei Tageslicht alles andere als volljährig. Sollte sich seine eigene Tochter mit neunzehn in so einen verlotterten Jüngling verlieben, würde er kaum leutseliger reagieren. Es waren die eindeutig beglückendsten, aufregendsten und stolzesten Tage seiner Jugend, entsprechend das Elend, als der Geliebten seine Unbedarftheit aufging, zumal er auch noch an Pfeifferischem Drüsenfieber erkrankte, ein Abschiedsgeschenk, wie sie Jahre später bestätigte, weil nur durch Küssen übertragbar. Die Krankenschwester war eine Sensation, die Schönste hinter der Stahlverarbeitung, wie er bereits Monate vor dem ersten Kuß geschwärmt hatte, der längste und leidenschaftlichste bis heute, der auch Malaria, Typhus und Windpocken gelohnt hätte. Am liebsten tastete er mit der Zunge die schmale Zahnlücke ab, mit der sie kokettierte, und würde auf

Weitere Kostenlose Bücher