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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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der Jahreszeit schon gar keinen Ofen, in welchem sie zum Glühen gebracht werden könnte – Worauf wartet ihr noch? brüllt er die Wachleute an: Ich will die Eisenstangen leuchten sehen! Von Panik ergriffen schreit der Junge, der hinter der versperrten Tür die Anweisung des stellvertretenden Bankdirektors hört, daß er die vierzehntausend Tuman zu Hause versteckt habe. Als die Tür geöffnet wird, stürzt er sich auf den Boden und fleht mit den Händen um die Knöchel des stellvertretenden Bankdirektors um Gnade. Wenig später trifft sein Vater ein, ein alter Herr mit langem weißem Bart, der vor Scham und Zorn zittert. Er habe, beschimpft er den Jungen, das Haus Israel angezündet und die Familienehre so sehr beschmutzt, daß für Generationen nichts davon übrigbleibe: Ich danke Gott für den Tag, an dem Er dich zu sich ruft. Der stellvertretende Bankdirektor hält es für die wirksamere Strafe, den Jungen statt der Polizei dem Vater zu übergeben.
    Man kann ihm den guten Willen bestimmt nicht absprechen, und doch gelingt es dem Leser nicht, wenigstens das System vollständig zu durchschauen, mit dem man, ich will gar nicht sagen: lesen, mit dem man die Frankfurter Ausgabe benutzen kann, die die Zeitung nach Rom geschickt hat. Beispiel das Gedicht »Patmos«: Sechs Einträge schlägt der Leser nach, und dann fehlen noch zwölf Stellen, die man im chronologischen Register aufstöbern muß, wo sie natürlich nicht nacheinander stehen. Reinschriften, sofern Hölderlin sie angefertigt hat, unterschlägt der Herausgeber nicht, doch hebt er sie auch nicht hervor. Ein Halbsatz hat den gleichen Rang wie die 226 Verse des »Patmos«in der Abschrift Sinclairs. Man kann überall aufschlagen, weil es nirgends endet. Darin, daß die Sätze, manchmal die Wörter zersprungen sind, wirklich so, wie Glas zerspringt, ist ihre Heiligkeit bewahrt, die uns niemals als Ganzes, Authentisches, nur in Splittern und ungefähren Überlieferungen zugänglich ist, wie schließlich auch Hagiographien seit jeher im Konjunktiv erzählt werden. Die Beschäftigung, wenn sie nicht Studium ist, springt ins andere Extrem, in die Versenkung: hier ein Vers, dort eine Silbe, zwischendurch ein ganzes Gedicht, das auf der nächsten Seite schon wieder aufgehoben wird. Es könnte kein anderer Text sein, der so gebrochen ist, denn es sind die Einzelteile, nicht ihre Ordnung, die ihn ausmachen, nur ist ihnen eigen, daß sie niemals heil werden können, es nie waren, wie die Faksimiles belegen. Die Transkription der Handschriften macht den Leser zum Editor, der sich ständig zwischen Lesarten entscheiden und Zusammenhänge herstellen muß, die sich zum Zufall hin öffnen. Natürlich besteht bei der Salbung, die der Herausgeber noch den Hölderlinschen Fettflecken zukommen läßt, die Gefahr, daß Zeichen zu Ikonen werden, die nicht mehr benutzt, sondern angestarrt, wenn nicht angehimmelt werden. Der Herausgeber scheint die Gefahr selbst gesehen zu haben, der schon deshalb nicht so weltfremd sein kann, wie die Archivmappe Glauben machen will, weil er die Frankfurter Ausgabe weltfremd nie vollendet hätte. Gegen den Widerstand seines Verlegers brachte er deshalb auch das Schnäppchen heraus, auf das der Leser am 8. Juni 2006 stieß, während er FrAndrea33 im Chat idealere Orgasmen auf dem Perserteppich bereitete, als er es in Wirklichkeit je vermöchte. Unter Verzicht auf Faksimiles und Transkriptionen besteht es ausschließlich aus dem edierten Text sowie sämtlichen verfügbaren biographischen Dokumenten, und zwar in strenger Chronologie. In den Feuilletons fand die Leseausgabe wenig Beachtung, dabei verweist sie in dem Roman, den ich schreibe, als gewiß nur ungenügendes, durch die Eile und das Zerwürfnis mit dem Verleger vielleicht auch fehlerhaftes Modell auf das eigentliche Ziel der fünfunddreißigjährigen Arbeit. So betrachtet, wäre die große Frankfurter Ausgabe nur ein Weg. Nicht der Herausgeber, sondern seine lobenden oder hämischen Kritiker tun so, als seien die verwirrenden Schrifttypen und Siglen Selbstzweck. Der Herausgeber selbst zerlegt die Manuskripte nicht deswegen in ihre Einzelteile, damit sie unlesbar werden. Sie sollen sich für den Leser angemessener, wahrer in ihrer Brüchigkeit zusammenfügen. Mit den Waschzetteln, Namenlisten, Gesprächsnotizen, Urkunden und Beobachtungen

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