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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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als die Magier in ihren langen, weißen Gewändern und mit funkelnden Augen vor dem Feuer summten, ihre jungen Gehilfen Hymnen sangen und die Weinbecher von Hand zu Hand gereicht wurden. In jenen Tagen waren Körper und Seele der Menschen frei und voller Kraft, da sie sich noch nicht in Richtung einer Handvoll arabischen Staubs zum Gebet verneigten.« Der Berg, so erfuhr Hedayat von einem Bauer, soll vor Urzeiten aus dem Wasser herausgeragt haben, als Isfahan noch ein Meer gewesen sei. Ob das Lockenköpfchen die Ruine beachtete? Der Treck ließ den Feuertempel rechter Hand hinter sich, passierte die letzten Äcker und durchquerte Wälder, in denen noch Raubkatzen für Herzklopfen sorgten, überwand Berge und quälte sich durch glutheiße Steppenlandschaften, in denen nicht einmal im Frühjahr ein Grashalm wuchs, alles auf diesen fünfunddreißig Kilometern angeblich. Auf dem Satellitenbild gut zu erkennen ist die Zersiedelung. Innerhalb einer einzigen Generation sind die zwanzig Seelen-Weiler zu lärmenden Kleinstädten angewachsen, ununterscheidbar in ihrer Gesichtslosigkeit aus Staub und Beton. Schon wir, die wir mit dem Auto kaum mehr als eine Stunde nach Tschamtaghi brauchten, die letzten Male, obwohl die Ausfallstraßen längst achtspurig sind, wegen Stau zwei, drei Stunden länger, können uns kaum mehr vorstellen, welche Freude jedesmal die gesamte Familie durchfuhr, welcher Jubel auf den Kutschen ausbrach, wenn von einer Anhöhe endlich die Wiesen und Felder, Gärten und Wälder von Kartschegan und Berendschegan im Tal des Zayanderuds auftauchten, des »Lebenspendenden Flusses«. Weil es den Ärzten nicht gelingt, eine Diagnose zu stellen, ist die Freundin von Nummer sechs jetzt ein Fall für die Forschung. Die Nummer sechs wird vorschlagen müssen, welche Entscheidungen jetzt zu treffen sind und welche noch Zeit haben. Jetzt: müssen es die Kinder erfahren. Vorher: sich mit einem Kinderpsychologen austauschen, rät die Nummer zehn am Telefon, ein, zwei Stunden, das reiche oft schon, um etwas Sicherheit zu gewinnen. Wichtig: der professionelle Blick der Nächsten auf das, was ihnen selbst buchstäblich die Kehle zuschnürt, Klarheit, wo sie nicht mehr klar sein kann, kühles Abwägen und sich auf keinen Fall, jedenfalls nicht in ihrer Gegenwart von der Panik anstecken lassen. Immer: Liebe, unbedingte Liebe, da sein. Das ist am Wichtigsten, für dich selbst hast du später noch Zeit. Jetzt muß die Nummer sechs überlegen, ob es schon Zeit ist, die Verfügung für die Kinder anzusprechen. Der Dorfvorsteher Afrasib erwartete den Treck mit seiner Frau Reyhaneh und den Kindern Manutschehr, Akbar, Manidjeh und Iran am Eingang zum Dorf, zu seinen Füßen ein Kohlebecken, aus dem Weihrauch aufstieg. Nachdem er dem Gutsherrn die Hand geküßt hatte (von den Bediensteten ließ Großvater sich den Handkuß also gefallen), legte Großmutter ein wertvolles Geschenk neben das Kohlebecken. Zum Abschluß der Begrüßung mußten sich alle Neuankömmlinge die Asche des Weihrauchs ins Gesicht schmieren, um vor dem bösen Blick geschützt zu sein. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Großvater sich ebenfalls Asche ins Gesicht schmierte, und finde es schon erstaunlich genug, daß er es dem Rest der Familie erlaubte. Erstaunlich ist es auch, daß die Mutter sich nach siebzig Jahren noch an die Namen der vier Kinder erinnert, die so iranisch und also weltlich, nationalistisch und modern waren, als hätte Großmutter sie ausgesucht. Leben sie vielleicht noch? Dann dürfte der Roman, den ich schreibe, ihre Namen nicht nennen. Andererseits würde ich nie davon erfahren, oder selbst wenn: würde ihr Tod mir nichts bedeuten. Wenn wir den Hof des Verwalters betraten, scheuchten wir die Hühner auf, streichelten die Schafe, nahmen die Lämmchen in den Arm, borgten uns den Esel aus und überboten uns in Schätzungen, wieviel von uns er gleichzeitig tragen könne. Was haben wir geflucht, weil der Esel ausgerechnet hinter dem entferntesten Berg beschloß, keinen Schritt mehr zu gehen. Mit den Kindern des Verwalters hingegen, obwohl sie in unserem Alter waren, haben wir nie gespielt, so daß wir ihre Namen kaum erfahren, geschweige denn behalten haben. In unserer Zeit hatte Großvater längst schon die Ländereien und Dörfer rund um Tschamtaghi verloren. Sein Besitz erstreckte sich auf das

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