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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Mikrophon spricht, ein paar Blätter liegen als Gedankenstützen herum, es hat Anfang und Ende, aber die besten Szenen sind eindeutig jene, in denen nur der Ton original ist. Brinkmann hatte sich ein kleines Tonband gekauft, das er um die Schulter hängte, wenn er seine Wohnung verließ, und ohne jedes weitere Zutun, ohne Inszenierung, ohne Anweisungen oder auch nur Erklärungen anschaltete, im Park vor Hunden oder auf einer Party, die allein durch ihre Konservierung fünfunddreißig Jahre später zu einem Kunstwerk wird, allein durch die Zeit, die selbst Brinkmanns Notdurft zur Dauer verhilft: »Hier ist die Maastrichter Straße. Jetzt pinkele ich an der Maastrichter Straße. Es ist kalt heute abend. Jetzt knöpfe ich den Hosenschlitz auf, ein Taxi fährt an, Schwanz raus, jetzt schiffe ich.« Das Geräusch einer Flüssigkeit ist zu hören, die gegen eine Wand spritzt. »Eine alte Bruchbude, vor der ich stehe. Ein Mufftyp schlufft vorbei.« Das Hupen eines Autos ist zu hören. »Ein blödsinniges Auto hupt. Abschütteln, Schwanz reinstecken«, das Startgeräusch eines Motors ist zu hören, »weitergehen«, ein Auto ist zu hören, das anfährt. Zwei Jahre später vor dem Flug nach London: »Dränge danach, jeden Gedanken, jede Erfahrung, jeden körperlichen Zustand in den vergangenen drei Jahren aufzuschreiben. Das nenne ich meinen Roman. Ich muß unbedingt aus meinen Erfahrungen ein Gesetz herausfinden.« Aus England schreibt er glückliche Postkarten (hat er das Gesetz gefunden?) und läuft vor ein Auto, fünfunddreißig Jahre alt, weil er nicht an den Linksverkehr denkt. Ihn hat Gott sauber getroffen.
    Als die Mutter das vorlaute, etwas pummelige Mädchen mit dem wilden Lockenkopf war, gab es in Isfahan immer noch kein anderes Fahrzeug als die zweispännige Kutsche, um längere Strecken zurückzulegen. Eine Weltreise könnte heute kaum aufregender sein als damals die fünfunddreißig Kilometer nach Tschamtaghi. Auf dem Weg übernachtete die Großfamilie bei Gutsherren, mit denen Großvater befreundet war, im Winter weniger, jeden Sommer mindestens siebzig, achtzig Menschen, alle Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, selbst die in Teheran wohnten, außerdem das Dienstpersonal. Wenn es regnete, war die ungepflasterte Straße oft kaum zu befahren, dann mußten alle absteigen und sogar das Gepäck abladen, um die Kutsche anzuschieben, die etwa im Schlamm feststeckte. Zwei, bei widrigen Bedingungen drei Tage fuhr der Treck auf unbefestigten Straßen, zunächst entlang des Flusses, der sich »gleich einer silberner Schnur durch die Wiesen und Felder schlängelt«, wie Sadegh Hedayat schrieb, der in den dreißiger Jahren denselben Weg zu Fuß ging: »Diese Felder sind wie ein Stoff aus vierzig Flicken, die alle ein anderes Grün haben.« Sieht man von der Autobahn ab, die man stadtauswärts von manchen Flußbiegungen aus sieht und überall hört, hat sich am Ufer des Zayanderud seither noch am wenigsten verändert. »Ich stellte mir vor, wenn man mich hier zurückließe, könnte ich mit ebendiesen Leuten ein neues und einfaches Leben führen; ich könnte schwitzen und die Erde pflügen; die Erde, von der geerntet worden ist, mit ihrem angenehmen Duft. Tage, Monate, Jahre, niemals würde ich müde. Im Frühherbst flögen die Raben im Himmel, im Winter spönnen die Frauen Wolle, erzählten Märchen und sprächen über die Preise für Weizen, Gerste, Wasser, Boden.« Auch mir kam am Zayanderud das Gefühl für Raum und Zeit so sehr abhanden, daß ich das letzte Mal dort mit kurzer Hose joggte. Die vier jungen Männer des Sittenkomitees trauten ihren Augen nicht, als ich ihnen auf dem Weg entgegenlief, auf dem vor siebzig Jahren Sadegh Hedayat und meine Mutter unterwegs waren. – Der Herr glaubt, er sei in Europa, war noch das Höflichste, was sie mir an den Kopf warfen. Nur knapp entging ich meiner Verhaftung als Sittenstrolch, indem ich die Verrohung meiner europäischen Sozialisation zuschrieb, für die sie das Schicksal zur Rechenschaft ziehen müßten. Auf dem Berg mit der Ruine des zoroastrischen Feuertempels, den Hedayat nach zwei, drei Stunden erreichte (heute haben ihn die Ausläufer der Stadt längst eingeholt), zündete er ein Stück Zeitungspapier an und gedachte wie heute so viele Iraner »der glorreichen Tage,

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