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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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grundanständig und mit einer so milden Ausstrahlung, daß man nicht anders konnte, als ihm zu vertrauen, ob es nun um Schlüssel, Geld oder um noch Wichtigeres ging. Als meine Frau und ich in Isfahan heirateten, ohne unseren Eltern Bescheid gegeben zu haben, war er unter den fünf notwendigen Trauzeugen der einzige Ältere, den wir am Vorabend zu fragen gewagt hatten, ob er uns zum Mullah begleite. Sosehr die spontane Trauung die Etikette verletzte, hörten wir von ihm nie ein Wort darüber. Meine Frau war aus seiner Sicht die richtige für mich – das galt. Und vielleicht liebte er später meine Tochter auch deshalb so sehr, weil er an der Ehe ihrer Eltern nicht unbeteiligt gewesen war. Drei-, dann vier- und schließlich fünfjährig machte sie brav alle Krankenbesuche mit, murrte nie, gab Herrn Madani einen Kuß auf beide Wangen und blieb an seinem Bett sitzen, seine Hand auf ihrem Arm.
    Er hielt sich. Wir kamen noch einmal nach Isfahan, zweimal, dreimal – Herr Madani hielt sich am Leben fest, soviel mehr ihn das Jucken und Magenschmerzen mit jedem Jahr, bei jedem unserer Besuche plagten. Er schluckte seine Pillen genau nach dem Plan, den sein Hausarzt erstellt hatte, der Mann meiner Tante mütterlicherseits, und strich sich den Bauch mit Olivenöl ein. Sein Dilemma war, daß er leiden konnte, soviel er wollte – es ließ sich einfach nicht verdrängen, daß Tante Lobat noch viel mehr gelitten hatte. Nach ihrem Tod wirkte jedes gewöhnliche Sterben wie eine Dienstfahrt, nicht erfreulich, aber unumgänglich. Tante Lobat hatte das Mitleid aller überfordert, auch das von Herrn Madani selbst, der wimmerte, ohne sich zu beklagen.
    Mehr und mehr reduzierte sich sein Bewußtsein auf seinen Körper. Wenn wir an seinem Bett saßen, sprach er ausschließlich von Schmerzen, Medikamenten, Arztbesuchen. Er wollte auch nichts anderes mehr hören, gerade noch, wie es den Eltern gehe, den Brüdern, dann erwartete er schon die Frage nach seinem Befinden. Ich glaube nicht, daß er früher viel an den eigenen Tod gedacht hatte, aber jetzt, da er sterben mußte, wollte er partout nicht. Er schien den Wert des Lebens, des Lebens als solchem, erkannt zu haben, schien das Leben als solches zu lieben, malte sich keine ordentliche Mahlzeit und keine Spaziergänge durchs alte Isfahan mehr aus, keine Feiern und Genesung, sondern strengte sich an, auf knapp zwei Quadratmetern beinah unbeweglich zu sein. Er lehnte sich auf gegen das Unvermeidliche, konzentrierte sich auf den Widerstand, den er dem Schicksal leistete, indem er noch ein Jahr überlebte und noch ein Jahr, bis er den Tod tatsächlich länger hinhielt, als wir es für möglich gehalten hätten. Seine Würde verlor er dabei nie. Stets höflich, im Rollkragenpulli oder sauberem, bis oben zugeknöpftem Hemd, unten die Pyjamahose, und einigermaßen rasiert, achtete er darauf, das taarof , das iranische Zeremonial der Höflichkeit, bei jedem Besucher wenigstens in Gesten einzuhalten, selbst bei meiner Tochter: angefangen von den Wangenküssen über die Fragen nach dem Befinden bis zum Tee, den seine Kinder oder die Schwiegertochter am Bett anbieten sollten.
    Weil ich die letzten anderthalb Lebensjahre von Herrn Madani nicht nach Iran fahren konnte, erfuhr ich kaum etwas über den Verlauf seiner Krankheit. Ich hörte immer nur von meinen Eltern oder meinem Cousin, daß es Herrn Madani im Prinzip unverändert gehe, nur ein wenig schlechter. Später erzählte mir meine Cousine, daß sie kurz vorm Ende und also nach langer Qual einmal ins Zimmer trat und sofort über das verzückte Gesicht ihres Vaters staunte, ja, als sei er in Ekstase, so glücklich. Er sagte, daß er Gott im Traum gebeten habe, ihm ein kleines Stück seines Paradieses zu zeigen, da habe es Blumenblätter herabgeregnet, Blumenblätter auf sein Bett, und das Bett, das habe auf einer Wiese gestanden, einer grünen Wiese, und noch während er es erzählte, schien er in den Traum zurückgekehrt zu sein. – Siehst du die Blumen, Kind? fragte er seine Tochter, atmest du die Luft? Er hatte die fixe Idee, sterben zu wollen, wenn es nicht zu warm und nicht zu kalt war, im Frühjahr, darum bat er Gott beinah in jedem Gebet: Bitte laß mich so sterben, daß die Menschen nicht frieren oder schwitzen müssen, die mich zu Grabe tragen. Er hatte Fieber, bevor er starb, atmete schnell.

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