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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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interviewen. Prostitution ist seriös dagegen. 12:22 Uhr: Er starrt auf die Uhr, als sei in nicht einmal einer halben Stunde das Leben vorbei, dabei sind es nur die vier Stunden, seine eigene Bedürftigkeit einzugestehen. »Ich hab solche sehnsucht nach dir«, simst die Frau um 12:23 Uhr. »Bald nehmen wir uns wieder in den arm«, antwortet er um 12:28 Uhr. Fünf Minuten hat ihn die Formulierung gekostet, fünf von siebzehn Minuten. 12:29 Uhr: »Und hoffentlich kann ich dich dann auch bald wieder spüren.« Selbst der Therapeut wunderte sich, daß sie es unabhängig voneinander ablehnten, für die sogenannte emotionale und die sogenannte sexuelle Beziehung ein gemeinsames Kreuz zu vergeben; vielleicht sieht er auch deshalb von der nochmaligen Verlängerung ab, die die Krankenkasse bereits bewilligt hat. 12:35 Uhr. Betrug wäre es, wenn der Mann gleich den Hörer abnähme. Es klingelt. Zuletzt betete er vor Jahren, als im Tadsch Mahal plötzlich Zehntausende Muslime an den Touristen vorbei in die Moschee strömten. Es klingelt immer noch. Er stieg über die Absperrung, zog die Sandalen aus und stellte sich in der letzten Reihe auf, die beim Zurückschauen schon nicht mehr die letzte war. Jetzt hört er jemanden vom Radio auf dem Anrufbeantworter. Jetzt blinkt die rote Leuchte des Anrufbeantworters. Der Eindruck dabei ist primär nicht, mit etwas Höherem verbunden zu sein. Der Eindruck primär ist, mit der Welt zu verbunden zu sein, horizontal. Jetzt klingelt das Handy. Der Eindruck ist, aus sich selbst getreten zu sein, nicht zu einem abstrakten Etwas, vielmehr zur materiellen Umgebung, dem Boden, der Luft und den Menschen ringsum. In acht Minuten muß er vor der Schule stehen und daher aufhören, die eigene Bedürftigkeit einzugestehen. Den Atomkonflikt hat er heute nicht gelöst.
    Um entsprechend der Lehre von Basu Matsu dem zu folgen, was sich von selbst ergibt – zwar nicht zu »schlafen, wenn man müde ist, zu essen, wenn man hungert« –, für den Anfang immerhin zu schlafen, wenn ein Bett da ist, zu essen, was auf den Tisch kommt, hält sich der Leser nach dem Vorgriff auf Hyperion und einem Blick in den Turm an die vorgegebene Reihenfolge und beginnt also mit Band eins der sämtlichen Werke, Briefe und Dokumente Friedrich Hölderlins. Der Liebesbrief des Achtzehnjährigen an Louise Nast ernüchtert durch das Fehlen jeder Eigenart, wie selig er ist, daß sie geschrieben, wie sehnsüchtig, sie wiederzusehen, wie verzweifelt wegen ihrer Ferne: Bin ewig dein. Das ist nicht nur die Zeit. Kleist ist dieselbe Zeit, Heine keine dreißig Jahre später. Ein Gedicht nimmt sich der Leser mehrfach vor, weil es ihm besonders mißfällt, und denkt, das kann nicht sein, das ist nun wirklich banal und nicht einmal für ein Frühwerk bemerkenswert, was ist denn dran an diesem Hölderlin?, da stellt er fest, daß es von Hölderlins Freund Neuffer stammt, den der Herausgeber nicht mag. Aber auch Hölderlins eigene Gedichte findet der Leser nur ideengeschichtlich bemerkenswert. Was ein Achtzehnjähriger dem Menschen zutraut, wie ein Achtzehnjähriger den Menschen nur acht Jahre nach Lessings Tod zu Gott erhebt, rührt immerhin durch das Wissen um Hölderlins reale Verfallsgeschichte: »O dich zu denken, die du aus Gottes Hand / Erhaben über tausend Geschöpfe giengst, / In deiner Klarheit, dich zu denken, / Wenn du dich zu Gott erhebst, o Seele! … So singt ihn nach, ihr Menschengeschlechte! nach / Myriaden Seelen singet den Jubel nach – / Ich glaube meinem Gott, und schau in / Himmelsentzükungen meine Größe«. Erst jetzt fällt dem Leser auf, beziehungsweise stellt er in Rechnung, wie sonderbar sein Schnäppchen ist: Über Dutzende, nein Hunderte von Seiten besteht es aus nichts anderem als Namenlisten von Schulklassen, Prüfungsorten und -tagen nicht nur von Hölderlin allein, sondern von schwabenweit allen Kandidaten seines Jahrgangs und Examens (32 Studenten am ersten Prüfungstag in Stuttgardt, zehn am zweiten in Backnang, drei am dritten in Großbottwar und so weiter durch ganz Württemberg), Ausgaben- und Vermögensverzeichnisse (1. Hirschfänger mit silber beschlagen im Werte von 10. f, besaß Johann Christof Gock, 1. pr.: silberne Schu und Hosen Schnallen – 1. f., allein sein Inventarium auf sieben Seiten), Schulordnungen (I. Was sie fürnehmlich

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