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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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mit allem möglichen, aber im Prinzip ebenfalls original, der Originalstaub einer römischen Familie, die vor zweitausend Jahren wer weiß wer war. Soviel Mühe sie auf ihre Ewigkeit verwandten, am Ende stehen fünfzehn Deutsche in der Gruft und fragt ein Kind die Fremdenführerin, ob der Staub original sei.
    Meine Mutter kürzt das Drama der Kandidatur ab, das Großvater so umständlich schildert: Zwei Tage nachdem sie seine Wahlplakate an den Häuserwänden entdeckt haben will, ruft Großmutter die Kinder nach der Schule tonlos vor Schrecken zusammen. Papa sei von der Reise zurückgekehrt, liege in seinem Zimmer, es gehe ihm nicht gut, er habe schlimme Kopfschmerzen, die Kinder mögen bitte keinen Lärm machen und auch nicht rennen. Meine Mutter und ihre Geschwister wissen noch nicht, daß die Großeltern mittags auf Radio Teheran hörten, wie der Sprecher zunächst immer langsamer wurde, die Vokale immer weiter dehnte, als müsse sein kurzes Manuskript noch für die nächsten Stunden reichen, Pause um Pause einlegte, bis er schließlich ganz verstummte. Danach hörte Großvater einige Minuten lang nichts, dann einen Streit. »Es ist egal, wer es liest, Hauptsache, es wird gelesen«, schrie schließlich eine Stimme, die daraufhin selbst aufgeregt ins Mikrophon rief: »Die Regierung von Mossadegh ist besiegt!« Wenige Sekunden später – »Seine Majestät ist auf dem Weg nach Hause!« jubelte die Stimme gerade – fiel Großvater in Ohnmacht. Heute weiß man, daß am Morgen des 19. August 1953 Ajatollah Kaschani, Ajatollah Behbahani und andere Verbindungsleute der Briten mit dem Geld, das der CIA zur Verfügung gestellt hatte, einen gewaltigen Mob aus Südteheran in Gang setzten, darunter viele Gefängnisinsassen, Prostituierte und ganze Mannschaften von Ringkämpfern und Athleten, die randalierend durch die Straßen zogen, »Tod Mossadegh« skandierten und den nationalen Radiosender besetzten. Kurz darauf übernahm die Armee das Programm, um zu verkünden, daß das Volk die Regierung gestürzt und der Schah General Zahedi zum Premierminister ernannt habe. Tatsächlich stürzte die Regierung erst am Abend, als die Armee nach mehrstündiger Belagerung Mossadeghs Haus in der Kach-Straße stürmte. Der Premierminister und einige andere Führer der Nationalen Front entkamen zunächst über die Gartenmauer, verbrachten die Nacht in einem Keller und ergaben sich am nächsten Tag. Wie gesagt, meine Mutter und ihre Geschwister hatten am Nachmittag noch keine Ahnung, als sie von der Schule heimkehrten und Großmutter ihnen sagte, sie sollten in ihre Zimmer gehen und leise sein, Papa sei krank. Erst als meine Mutter und meine Tante am nächsten Morgen zur Schule gingen, sahen sie Großvaters abgerissene Wahlplakate, die es in Wirklichkeit, aber was ist fünfzig Jahre später schon Wirklichkeit?, nicht gegeben haben kann. Sie sahen Großvaters kugelrundes Gesicht mit dem Stoppelbart, der voluminösen Nase, dem kahlen Schädel und den vor Würde weit heruntergezogenen Mundwinkeln auf dem Bürgersteig, die ungewohnte Krawatte und den guten Nadelstreifenanzug zerknüllt, zerfetzt, mit Schuhabdrücken darauf. An den Wänden sahen sie überall den gleichen Spruch: »Tod Mossadegh! Lang lebe Zahedi«. Sie sahen die Pflastersteine herumliegen, die aus den Straßen herausgerissen waren. Heulend und schreiend rannten sie zurück nach Hause, wo Großvater noch drei Tage und Nächte auf seinem Zimmer blieb. Nur Großmutter durfte gelegentlich anklopfen, um etwas Essen zu bringen, von dem er so gut wie nichts anrührte. Man kann dem Westen vorwerfen, in Iran einen Putsch organisiert zu haben. Man kann aber auch fragen, warum ein paar hunderttausend Dollar und ein paar Agenten genügten, einen Mann zu stürzen, für den die Mehrheit der Nation angeblich bereit war zu sterben. Für Großvater blieb es lebenslang die dringlichere, weil religiöse Frage. Für ihn hatten die Iraner am 19. August 1953 Doktor Mossadegh im Stich gelassen wie die Muslime den Imam Hossein am 3. Oktober 680 bei Kerbela. »Von jenem Tag an«, also noch über dreißig Jahre, wenn die Mutter nicht wie immer übertreiben würde, »bestand sein Leben aus kaum mehr als aus Beschimpfungen, Verfluchungen und Verdammungen des Schahs und dessen Bande, aus Schweigen und aus der

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