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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Einsamkeit seines Zimmer, wo er für sich tagelang den Koran, Saadis Rosengarten und das Masnawi von Rumi rezitierte, wie wir vom Flur aus hörten. Er war ein alter Mann geworden, ausgelöscht, sterbensmüde, von der Arbeit und allen anderen Dingen des Lebens gelangweilt, in bitterer Zurückgezogenheit. Weder ging er aus noch besuchte ihn jemand außer den zwei, drei Freunden, die seine Sprache sprachen und seinen Schmerz teilten.« Das ist der letzte Satz, den die arbeitslos gewordene Waise abtippte, die nicht zu früh heiraten soll. Die Eltern sind aus Spanien zurückgekehrt, wo die Mutter jeden Tag viele Stunden geschrieben hat, wie sie dem Sohn am Telefon verriet. Sobald sie einen Reisenden findet, der die Blätter mit nach Isfahan nimmt, hat die Waise wieder Arbeit, reichlich Arbeit, fügte die Mutter halb stolz, halb verschämt hinzu. Würde sie einen Blick in die Selberlebensbeschreibung ihres Vaters werfen, könnte sie manches verwerten.

 
    Â 
    Im Telegraphenamt von Isfahan drängen sich am Morgen des 23. August 1952 die Menschen, um dem Premierminister ihre Solidarität zu bekunden, nachdem die britische Regierung am Vortag einen umfassenden Wirtschaftsboykott Irans beschlossen hat. Der stellvertretende Direktor der Nationalbank steht in der Schlange vor Schalter sieben, als sich am Eingang eine zittrige und dennoch laute Stimme erhebt. Seinen seltsam glitzernden Wanderstock zur Decke gestreckt, ruft ein lumpiger Derwisch, daß man auch seinen Namen unter ein Telegramm setzen möge, er zahle mit seinem gesamten Besitz: zwei Tuman. Bravo, rufen die Leute, hört diesen edlen Derwisch, und hier können Sie unterschreiben. Großvater hat nie erfahren, woran der Derwisch ihn erkannte – die Plakate waren schließlich nie geklebt worden –, wie er seine Adresse ermittelte und woher er überhaupt wußte, daß er, Großvater, gerade beabsichtigte, nach Teheran zu reisen, aber am nächsten Abend stand der langhaarige Derwisch in seinem Gewand aus hundert Flicken vor dem Haus am Teheraner Tor. Großvater öffnete selbst die Tür. Der Derwisch hielt ihm seinen Wanderstock aus Ebenholz entgegen, schwarz und mit feinsten Kuppen versehen, die in vollendeter Kunstfertigkeit mit hauchdünnen, geschwungenen Nägeln aus Gold befestigt waren. – Geben Sie diesen Stock bitte Doktor Mossadegh, sagte, nein, ordnete der Derwisch an, richten Sie ihm meine Grüße aus und wünschen Sie ihm in meinem Namen Erfolg: Ich werde für ihn beten. Großvater mußte nach Teheran fahren, um einen Freund zu besuchen oder wegen Geschäften, vielleicht wollte er auch nur für ein paar Tage dem geheuchelten Mitleid entfliehen, das ihm seit seinem Rückzug von der Kandidatur entgegenschlug – auf der Straße, in der Bank und den abendlichen Versammlungen, die er, seltener zwar, weiterhin besuchte. Seine Begeisterung für Mossadeghs Kampf war ungebrochen. Selbst wenn er noch Kandidat gewesen wäre, Kandidat für einen Wahlkreis in der Provinz, hätte er nicht mir nichts, dir nichts den Premierminister besuchen können. Als Privatmann sei es ausgeschlossen, wollte Großvater sagen, allein, der Derwisch hatte ihm bereits den Rücken gekehrt. Der Stock, schwarz mit den feinen Kuppen und Nägeln aus Gold, lehnte am Türrahmen. So kam es also zu der Begegnung Großvaters mit Doktor Mossadegh, eine der großen Sagen in unserer Familiengeschichte. Wenn ich die Mutter oder ihre Geschwister früher hörte, klang es beinah, als habe Großvater dem Premierminister einen Termin gewährt. Er fuhr nach Teheran, um Mossadegh seine Unterstützung zu erklären, hieß es immer und schrieb ich sogar selbst in einem meiner Bücher; ich stellte mir das so vor, wie ein Staatschef zu einem anderen Staatschef reist, in meiner kindlichen Phantasie mit Begleitdelegation und dem Händedruck im Blitzlichtgewitter. Tatsächlich fuhr Großvater nach Teheran, um einen Freund zu besuchen, wegen Geschäften oder nur für etwas Abwechslung, und hatte er keine Ahnung, wie er zum Büro des Premierministers vordringen könne, um – Großvater selbst wird sich angesichts des Vorhabens die Hand an die Stirn geschlagen haben –, um einen Stock zu überreichen, den Wanderstock eines lumpigen Derwischs. Das ist kein geschichtliches Ereignis, wie es sich bei uns zu Hause immer anhörte. Das ist nicht einmal eine Fußnote

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