Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
Vom Netzwerk:
auch in französischen, schweizerischen und deutschen Städten vermutlich noch in allen Gotteshäusern morgens, mittags und abends ein Gottesdienst gefeiert, an dem mindestens drei, vier Gläubige teilnahmen, als würde eine unsichtbare Betriebsleitung ihre Verteilung organisieren. Großvater kann Europa nicht als gottlos wahrgenommen haben, im Gegenteil: Verspottet wurde er 1963 in Iran, weil er täglich in die Moschee ging. Da meine Blase zu sehr drückte, um bis zur Messe durchzuhalten, kaufte ich mir für fünfzig Cent eine Postkarte, nein, genau gesagt kaufte ich mir zwei Postkarten, eine vom gesamten Altar, eine nur von Renis Kreuzigung , doch um den Altar betrog mich der Automat, was nicht mich, sondern den Zigeuner an der Tür fünfzig Cent kostete, die ich nicht in den Kaffeebecher warf, und ging selbst einen Cappuccino trinken, um nicht neben die Kirchenwand zu pinkeln. Da sich in San Lorenzo nun genügend Gläubige inChristi Namen versammelt hatten, kehrte ich nicht zurück, sondern stieg lieber die Spanische Treppe zur Santissima Trinità dei Monti hoch, wo die Abendmesse eine Stunde früher beginnt und dafür eine Stunde länger dauert. Wie sich bei den Schiiten jeder Gläubige selbständig den Schriftgelehrten auswählen muß, dessen Auslegung der Quellen er befolgt, so habe ich mich in Rom für die Santissima Trinità dei Monti entschieden, um, wenn nicht ihre Deutung, wenigstens ihre Riten nachzuahmen. Die französischen Brüder und Schwestern mögen Neuerer sein, wie ein katholischer Freund bemängelte, indem sie auf dem Boden knien, lange meditieren, noch länger als in der Kirche üblich singen und im Gebet wie Muslime abwechselnd sich demütig niederwerfen, entschlossen aufstehen, Zuflucht suchend zum Himmel schauen und selbstbewußt die Arme ausbreiten, aber den Geist, den man dem frühen Christentum als einer Bewegung egalitärer, gewaltfreier Asketen zuschreibt, einer verfolgten Minderheit, habe ich nirgends in Rom, nein, in keinem anderen Gottesdienst, den ich je besuchte, stärker gespürt, real gespürt als eine Luft, die sich auf mich, auf alle acht Menschen legte, die hinter den Brüdern und Schwestern versammelt waren. Allerdings nicht mehr: keine Erleuchtung, keine Bekehrung, nicht einmal Läuterung, nur Frieden, der nach den zwei Stunden noch ein wenig anhielt. »Wie da die Leugner fasseten / In ihre Herzen trotzigen Stolz, / Den trotzigen Stolz der Unwissenheit; / Gott aber sandte seinen Frieden / Auf seine Abgesandten und die Gläubigen, / Und ließ sie halten fest das Wort der Gottesfurcht« (Sure 48,26). Was hier als Frieden übersetzt wird, ist im Arabischen das Wort Sakina und der arabische Name, den Großvater gegen Großmutters Willen meiner Mutter in die Geburtsurkunde schrieben ließ. Wo imChristentum Er mitten unter denen ist, die sich in Seinem Namen versammeln, senkt sich im Islam die Sakina herab, wann immer der Koran rezitiert wird, und es gesellen sich dazu die Engel. »Alles was wir körperlich oder äußerlich vor dem Unendlichen thun, kurz was nicht Gedanke ist, also alles laute Beten, Knien, Händefalten, ist Zeremonie, nicht Tugend (obwol Aeusserung der Tugend) und alles das könnte eben so gut im Gegentheil bestehen: es wäre eben so from, wenn ich beim Beten aufstände als niederfiele , den Kopf bedekte (wie die Römer) als entblöste«, bemerkt Jean Paul in einem Brief vom 23. April 1795 an einen jüdischen Freund und fährt fort: »Also folgt daraus gegen alle Zeremonien – nicht das Geringste.«
    Bei den Brüdern und Schwestern der Gemeinschaft von Jerusalem, wie sie sich nennen, ist die Hierarchie, die mich am Katholizismus beinah am meisten stört, auf das pragmatischste zurückgeführt; nur für die Eucharistie tritt der Priester hinter den Altar, hernach er sich vor seinen Brüdern und Schwester verbeugt, auf die sich alle anderen Aufgaben verteilen, jeder nach seinen Fähigkeiten, wer die ersten Stimmen singt, wer aus dem Buch rezitiert, wer die Predigt hält, wer die Kerzen anzündet, wer das Brot und den Wein verteilt, den Leib und das Blut Christi. Das Prinzip schiitischer Moscheen, in welchen für den Vorbeter im Boden eine Vertiefung eingelassen ist, oft symbolisch, manchmal so tief, daß der Ärmste mit einer kleiner Leiter hinabsteigen muß wie in sein eigenes Grab, hätte ich den Brüdern

Weitere Kostenlose Bücher