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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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einer eingewurzelten Verhaltensweise seines Geistes« ihre Bedingung haben, führt Bertaux auch auf Hölderlins Beschäftigung mit einer semitischen Sprache wie dem Hebräischen zurück, ohne den Gedanken weiter auszuführen. Tatsächlich ist das gleiche Prinzip der unverknüpften Bilder und in diesem Fall, noch konkreter, der wiederholten, variierten Frage, die ihre Wirkung durch das Mysteriöse erzielt, und der mehrfach hinausgezögerten Antwort eines der mächtigsten Stilprinzipien des Korans, etwa zu Beginn von Sure 101, wenn das im Arabischen lexikalisch schwer zu bestimmende, tief in der Kehle gesprochene Wort qârica mit dem dunklen, gutturalen q und dem aus dem Schlund gepreßten, stimmhaften Reibelaut ceyn zunächst völlig beziehungslos im Raum steht: »Die Pochende! / Was, die Pochende? / Woher weißt du, was ist die Pochende? / Wann Menschen werden sein wie flatternde Motten, / Und Berge wie gekrempelte Wollenflocken.« Bei Hölderlin ist die Antwort gleichermaßen Trost und Vernichtung, in einem ähnlich konkreten, unheimlichen Bild wie in Sure 101: »Es ist der Wurf des Sämanns, wenn er faßt / Mit der Schaufel den Weizen, / und wirft, dem Klaren zu, ihn schwingend über die Tenne.«
    In San Lorenzo in Lucina blieb ich, nachdem ich am Montag, dem 8. Dezember 2008, um 17:03 Uhr Allmacht, Kunstreiseführer und Hölderlin im Rucksack verstaut hatte, gemeinsam mit den drei Gläubigen jenseits des Mittelgangs stumm und erwartungsvoll sitzen wie Großvater im kleinen Frankfurter Gerichtssaal, der in Siegen gewesen sein muß. Nichts geschah, auch das Altarbild interessierte mich nicht weiter. Im Laufe der nächsten halben Stunde setzten sich fünf weitere Gläubige auf die Bänke, auf denen auch der alte Herr und der junge Priester Platz nahmen. Von Zeit zu Zeit standen die beiden auf, verschwanden in der Seitenbühne und kehrten wieder, ohne eine Andeutung zu machen, was sie besorgt hatten. Ich sah nur, daß der junge Priester weiter flüsternd Scherze mit dem alten Herrn trieb, der darüber nicht lachte, aber es sich doch gern gefallen zu lassen schien. Weil wir nicht in Siegen waren, schwatzten schließlich auch die anderen Gläubigen, als träfen sie sich jeden Tag. Ich ging nach draußen, um mich zu erkundigen, wann die Messe endlich beginnt. Um 19 Uhr erst, las ich auf einer Tafel, in anderthalb Stunden erst. Ich verstehe das Dilemma und hülfe gern mit meiner Anwesenheit: So unerhört viele Kirchen stehen in Rom, jede ein eigener Charakter, die Königin, die Diva, das Mäuschen, die Neureiche, die Protzige, das Mannequin, die Ätherische, die Schwindsüchtige, die schlichte und die barocke Schönheit, daß sich die Gläubigen werktags verteilen müssen, damit alle zu ihrem Recht kommen. Die Nationalkirchen haben es einfacher, weil sie zugleich Gemeinderaum der Deutschen, Franzosen, Amerikaner, Koreaner oder Äthiopier sind und Fernreisen für den Besucher, der mitten in der Altstadt in eine fremde Sprache, zwischen fremde Menschen tritt. Für die Römer bleiben mehr als genug. Als Rom zwanzigmal so klein war und genauso viele Kirchen hatte, müssen sich alle Bänke noch gefüllt haben, an jeder Ecke des Zentrums fast eine Tausendschaft, die sonntags Gott gedachte. Mit Mühe zwar, scheint es im Europa des Jahres 2008 noch immer möglich, alle Messen zu lesen. Selbst Schüler, die in der Stadt bummeln, helfen aus, schnatternde Mädchen, Schönlinge in der Ausbildung, Geschäftsleute zwischen zwei Meetings und Bettler, die ihnen folgen, um sich nach dem Gottesdienst am Ausgang zu postieren. Ich habe mich in Kirchen immer wohl gefühlt, selbst mit Laptop: Niemals waren Blicke skeptisch, obwohl ich mich nicht bekreuzige, nicht die Knie beuge oder zum Abendmahl vor den Priester trete; auch der Auftrag zur Mission, an dem ich mich außerhalb der Kirche reibe, scheint in der Kirche nicht mehr mich zu meinen. In Moscheen wird der Andersgläubige bestenfalls in Ruhe gelassen, in Synagogen ihm ungefragt guter Wille attestiert. Ich habe keine Ahnung, was es ist, daß selbst die Deutschen den Fremden freundlich betrachten, sobald sie in der Messe sitzen. Großvater wird das gleiche gespürt haben, sonst hätte er den Gebetsteppich 1963 nicht am liebsten in Kirchen ausgebreitet, wie mein Vater mir am Telefon noch einmal versicherte. Vor fünfundvierzig Jahren wurde

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